Brasilien hat entschieden. Vor einer Woche gewann der rechtsextreme Kandidat Jair Bolsonaro die Präsidentschaftswahlen in der fünftgrößten Demokratie der Welt. Was bedeutet sein Wahlsieg für junge und zukünftige Generationen?

 

Gesellschaft: Macht Platz der Mehrheit

Im Grunde genommen können junge Menschen in Brasilien ihren politischen Überzeugungen Gewicht verleihen: Es gilt das Wahlrecht ab 16. Doch man mag bezweifeln, inwiefern sich der designierte Präsident die politische und gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen wünscht. Im Wahlkampf hatte er sich wiederholt rassistisch, homophob und sexistisch geäußert. Bolsonaro verherrlichte die Militärdiktatur und sprach sich offen für Folter aus. Zuletzt gab er zu verstehen, dass es unter ihm eine in Brasilien „nie dagewesene Säuberung“ geben werde. Solche Ankündigungen stellen für gesellschaftliche Minderheiten eine existenzielle Bedrohung dar und greifen die junge Generation direkt an. Denn diese ist in Brasilien außerordentlich vielfältig: Sie vereint unterschiedliche Ethnien, Dialekte, Traditionen, Herkünfte, Erfahrungen und Perspektiven in einem Land, das flächenmäßig doppelt so groß ist, wie die gesamte Europäische Union.

Nichtsdestotrotz versichert Bolsonaro nüchtern, Minderheiten würden sich unter seiner Regierung Mehrheiten ausnahmslos beugen müssen. Junge und zukünftige Generationen sind allerdings in einem gegenwartsfixierten System, in dem sie und ihre Interessen kaum Repräsentationsmöglichkeiten haben, per se eine Minderheit. Dabei sind sie diejenigen, die am stärksten von den Folgen heute getroffener politischer Entscheidungen betroffen sein werden. Bedenkt man die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen dezidiert nicht, werden Investitionen in die gesellschaftliche Zukunft nie Teil der politischen Agenda, solange sie die in der Gegenwart herrschende Klasse nicht privilegieren. Den 63-jährigen Jair Bolsonaro scheint das nicht zu stören. Die Folge: Kosten für heutige politische Handlungen werden weiterhin auf die Nachwelt verlagert.

Bedenkt man die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen dezidiert nicht, werden Investitionen in die gesellschaftliche Zukunft nie Teil der politischen Agenda, solange sie die in der Gegenwart herrschende Klasse nicht privilegieren. Den 63-jährigen Jair Bolsonaro scheint das nicht zu stören.

 

Umwelt: Natürlich Nebensache

Brasilien gehört zu den artenreichsten Ländern der Erde. Neben Küsten, Wüsten und Gewässern beherbergt das größte Land Südamerikas auch den tropischen Regenwald des Amazonasgebietes. Dessen natürliche Vielfalt hat einen bedeutenden Einfluss auf das weltweite Klima: Laut dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ist der brasilianische Regenwald „eines der Kipp-Elemente im Erdsystem“, die Intaktheit der Natur Brasiliens ist zwangsläufig eine Frage von globaler Bedeutung.

Trotzdem erwähnt der designierte Präsident Brasiliens das Wort Umwelt an keiner Stelle seines Wahlprogramms. Sein Schweigen spricht Bände. Bereits vor der Wahl äußerten 33 brasilianische Nichtregierungsorganisationen in einem offenen Brief Sorgen vor „konkreten und irreversiblen Gefahren“, die Bolsonaros Politik für die Umwelt darstelle. Auch Anna Braam, Vorstandsvorsitzende der SRzG, warnt: „Betrachtet man Bolsonaros Vorhaben in der Umwelt- und Klimapolitik, zeichnet sich ein Desaster ab.“ Denn der zukünftige Präsident des fünftgrößten Landes der Welt scheint über kein Verantwortungsbewusstsein für die Tragweite seiner politischen Entscheidungen zu verfügen.

Anlass zur Sorge ist etwa die Absicht, das Umweltministerium in das Landwirtschaftsministerium zu integrieren. Umweltbelange wären in diesem Fall landwirtschaftlichen Interessen untergeordnet. Bolsonaro, der maßgeblich von der Agrar-Lobby unterstützt wird, ebnet damit den Weg für die verstärkte Ausbeutung ländlicher Gebiete. Das brasilianische Institut für Weltraumforschung Inpe rechnet etwa damit, dass sich die Rodung von Waldgebieten unter Bolsonaro verdreifachen wird. Analog sollen die Kompetenzen der staatlichen Umweltbehörde Brasiliens Ibama eingeschränkt werden. Diese ist bisher dafür zuständig, Umweltlizenzen für Infrastrukturprojekte zu vergeben und die Durchführung von Umweltschutzauflagen zu kontrollieren. Die Flexibilisierung gesetzlicher Vorgaben zur Maximierung der landwirtschaftlichen Nutzung bei einer gleichzeitigen Schwächung von Kontrollmechanismen hätten desaströse Folgen für das brasilianische Ökosystem und brächten weitreichende globale Konsequenzen mit sich.

Doch für Bolsonaro ist Naturschutz Nebensache. Das demonstrierte er auch im Zusammenhang mit dem Pariser Klimaabkommen: Nachdem er mehrfach angekündigt hatte, aus dem Abkommen aussteigen zu wollen, erklärte er zuletzt überraschend, nun doch in diesem zu verbleiben. Anlass war die Drohung Frankreichs, man würde im Falle eines Austritts wirtschaftliche Beziehungen mit Brasilien überdenken müssen. Niro D’Ávila von Greenpeace Brasilien warnt davor, die Natur lediglich wie eine wirtschaftliche Ressource zu behandeln. Man müsse als „Lebensgarantie zukünftiger Generationen“ verstehen und demzufolge handeln, so D’Ávila.

Betrachtet man Bolsonaros Vorhaben in der Umwelt- und Klimapolitik, zeichnet sich ein Desaster ab. Der zukünftige Präsident des fünftgrößten Landes der Welt scheint über kein Verantwortungsbewusstsein für die Tragweite seiner politischen Entscheidungen zu verfügen.

Allen voran wären die in Brasilien heimischen indigenen Gemeinden von Bolsonaros Umweltpolitik betroffen. Schon heute wird durch die Rodung des Regenwaldes ihr Lebensraum immer stärker verkleinert. Bolsonaro nannte den Schutz von Lebensräumen indigener Bevölkerungen eine Industrie und kündigte an, ihnen „keinen Quadratzentimeter Land“ überlassen zu wollen. Gleichgesinnte setzten seine Worte unmittelbar nach der Wahl in Taten um: Bereits am darauffolgenden Tag wurden Anhänger*innen zweier indigener Gemeinden bedrängt und physisch angegriffen.

 

Schritt zurück: Um die Zukunft kümmern wir uns später

Brasilien ist ein junges Land. Dementsprechend großzügig geht das derzeitige Rentensystem mit älteren Generationen um: Das gesetzliche Eintrittsalter ist mit 60 Jahren außergewöhnlich niedrig, in der Realität ist es durch Sonderregelungen häufig sogar noch geringer. Doch vor allem die jungen Generationen werden den demografischen Wandel zu spüren bekommen. Hatten in den 1970ern die Brasilianer*innen durchschnittlich noch über fünf Kinder, sind es heute gerade mal zwei. Die staatliche Statistikbehörde IBGE geht davon aus, dass sich zwischen 2010 und 2050 die Zahl der Bürger*innen über 60 verdreifachen wird. Die Alterung von Gesellschaften sei in vielen Ländern schon seit längerer Zeit zu beobachten, so die Forscherin der Statistikbehörde Bárbara Cobo. Nun müsse man auch in Brasilien dringend „nachdenken und Mechanismen entwickeln, die das System nachhaltiger gestalten.“

Bolsonaros Antwort: Neben einer geringfügigen Erhöhung des Mindesteintrittsalters die Einführung eines auf der privaten Vorsorge basierenden Systems. Neue Erwerbstätige sollen dann entscheiden können, wie sie für ihre Altersvorsorge einstehen wollen. Der brasilianische Rentenexperte João Badari bezeichnete ein solches System im brasilianischen Kontext als „besorgniserregend und utopisch“. Ob Bolsonaro letztendlich für die angekündigten Reformen einstehen wird, bleibt allemal abzuwarten. In früheren Abstimmungen hatte er als Parlamentarier wiederholt gegen Erneuerungsmaßnahmen des Rentensystems gestimmt. Sollten seine Pläne jedoch umgesetzt werden, wäre der jungen Generation Brasiliens wohl kaum geholfen.

In einem Land mit der Altersstruktur Brasiliens würde die Umsetzung von Bolsonaros Vorhaben in der Arbeitsmarktpolitik die Zukunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft tiefgreifend beeinträchtigen.

Denn mit der Einführung des alternativen Rentensystems geht für den designierten Präsidenten unweigerlich die Flexibilisierung des Arbeitsrechts einher. Dadurch sollen Beschäftigungsverhältnisse ermöglicht werden, die – statt dem herkömmlichem Recht zu unterliegen – auf individuellen Abmachungen zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen beruhen. Im gegenwärtigen Arbeitsrecht verankerte Ansprüche auf Mindestlohn, eine Arbeitsunfähigkeitsversicherung oder das 13. Jahresgehalt wären in diesem Fall ausgeklammert. Bolsonaro betont, dass flexiblere Beschäftigungsverhältnisse gerade junge Menschen den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern würden.

Das Gegenteil ist der Fall. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes würde junge Menschen sogar massiv benachteiligen. Der Ökonom Euzébio Jorge de Souza spricht von einem eindeutigen Rückschritt: Bolsonaros Pläne würden unausweichlich zur „Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheiten“ führen. Denn sein Konzept fußt auf der illusorischen Prämisse, Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen seien gleichberechtigte Parteien, die über dieselben Ressourcen verfügen. Dem ist nicht so: Gerade junge Menschen sind in Brasilien besonders von Arbeitslosigkeit, Befristung und prekären Arbeitsverhältnissen betroffen. Eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nach Bolsonaros Plänen würde diese Umstände nur verschärfen: Viele junge Menschen wären letztendlich gezwungen, mehrere Jobs mit niedrigeren Löhnen und unter schlechteren Arbeitsbedingungen auf Kosten ihrer Weiterbildung anzunehmen. In einem Land mit der Altersstruktur Brasiliens würde die Umsetzung von Bolsonaros Vorhaben in der Arbeitsmarktpolitik die Zukunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft tiefgreifend beeinträchtigen.

 

Wie umgehen mit Jair Bolsonaro?

Während die einen der Amtseinführung ihres bevorzugten Kandidaten am 1. Januar des kommenden Jahres entgegenfiebern, stellt sich für die anderen die Frage, wie mit dem Sieg Jair Bolsonaros umzugehen ist. Vor der Wahl hatten sich in Brasilien vielerorts Menschen unter dem Motto #viravoto zusammengefunden, was auf Deutsch so viel bedeutet wie „Stimmen umkehren“. Sie waren als Antwort auf die signifikante Anzahl unentschlossener Wähler*innen auf öffentliche Plätze gezogen, hatten dort Stände aufgebaut und zum Dialog aufgerufen. Sie wollten mit ihren Mitmenschen ins Gespräch kommen, sich gegenseitig zuhören und gemeinsam debattieren. Diese Bewegung war von großer symbolischer Bedeutung während eines Wahlkampfes, der von Falschnachrichten und einseitiger Berichterstattung geprägt war. Es wird grundlegend sein, diesen Dialog auch nach der Wahl am Leben zu halten. Bereits wenige Tage nach seinem Wahlsieg schloss Bolsonaro Journalist*innen der zweitgrößten Tageszeitung Brasiliens aus einer Pressekonferenz aus, weil sie im Wahlkampf kritisch über ihn berichtet hatten. Die Folha de S. Paulo sei nun erledigt, so Bolsonaro.

Auf internationaler Ebene sind eilig neue Allianzen gefragt, die Menschenrechte dezidiert verteidigen und die brasilianischen Institutionen unterstützen.

Während Trump und Le Pen Jair Bolsonaro umgehend zum Wahlsieg gratulierten, halten sich andere bislang zurück und warten auf ein konkretes Regierungsprogramm. Doch auf internationaler Ebene sind eilig neue Allianzen gefragt, die Menschenrechte dezidiert verteidigen und die brasilianischen Institutionen unterstützen. Angesichts der globalen Konsequenzen von Bolsonaros Klimapolitik müsse „die internationale Staatengemeinschaft sich nun überlegen, wie sie Bolsonaros Androhungen entgegentreten will“, so Anna Braam.

Bolsonaro mir einer klaren Absage entgegentreten – das wollen auch diejenigen, die sich am Sonntag nach der Wahl zu einer Kundgebung gegen Bolsonaros Androhungen in Berlin trafen. Unter den vor allem jungen Anwesenden waren auch die zwei brasilianischen Studierenden Maria, 21, und Felipe, 24. Beide haben gewählt und sind wütend: „Wir werden nicht zusehen, wie man uns die Zukunft verbaut, unsere Wälder abholzt und die Rechte unserer Freunde einschränkt.“ Für Matheus, 54, ist Bolsonaros Wahlsieg in Anbetracht der brasilianischen Geschichte nur schwer nachvollziehbar. Aber das Szenario könne „ein gemeinsamer Startpunkt für eine neue Bewegung“ sein, so der brasilianische Sprachwissenschaftler. Die Verantwortung sieht er jedoch in den Händen der jungen Menschen. Sein Rat: „Laut bleiben!“

 

Ordnung und Rückschritt

Bolsonaros Überzeugungen lassen die Hoffnung auf ein zukunftsfähiges Brasilien verblassen. Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit, Bildung, Demokratie, Umweltschutz und Nachhaltigkeit – für all das steht Jair Bolsonaro nicht. Stattdessen verherrlicht er Gewalt, glorifiziert die Militärdiktatur und verspottet Andersdenkende. Er schwärmt von gesellschaftlicher Homogenität und weckt damit Erinnerungen an Zeiten, die längst vergangen schienen. Kurzum: Die Zeichen für junge und zukünftige Generationen stehen unter ihm denkbar schlecht.

Inmitten der brasilianischen Flagge steht prominent vor dunkelblauem Hintergrund der Leitspruch der jungen Republik: Ordem e progresso – Ordnung und Fortschritt. Für Ordnung will Jair Bolsonaro sorgen. Bleibt zu hoffen, dass er damit nicht nur Rückschritte bewirkt.

 

von Simon Sales Prado

geb. 1998, studiert Politikwissenschaft in Berlin und ist Botschafter der SRzG.
Er wuchs in Brasilien auf und legte sein Abitur in Stuttgart ab.