Stuttgart, 8. Juli 2023.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

gestern war ich im Rahmen der Forum Bellevue-Gespräche zu einer handverlesenen Gesprächsrunde mit Christiane Benner (IG Metall), Ottmar Edenhofer (PIK/MCC) sowie Gästen eingeladen, wofür ich mich sehr herzlich bedanke. Das Thema lautete „An der Schwelle zur klimaneutralen Wirtschaft“. Beim ungezwungenen Gespräch im Anschluss an die Podiumsdiskussion fragte ich Sie, ob Sie eigentlich Ihren eigenen CO2-Fußabdruck kennen. Sie antworteten mir freundlich, dass dies nicht der Fall sei und dass Sie im Rahmen ihres Amtes ja viele Flugreisen unternehmen müssen, wobei Sie als Beispiel die Kasachstan-Reise nannten, von der Sie gerade zurückgekommen waren.
Nun möchte ich mit diesem Brief unsere kleine Diskussion weiterführen und anregen, dass das Bundespräsidialamt das Jahr 2023 zum ersten Jahr in seiner Geschichte macht, in dem es keinen CO2-Fußabdruck und damit keine Klimabürde für künftige Generationen hinterlässt.
In welchen Bereichen bei Unternehmen und Privatpersonen CO2-Emissionen anfallen, zeigt diese Präsentation auf der Basis des CO2-Rechner des Umweltbundesamtes. In einem neuen Preprint von Wissenschaftler:innen, die sich bei Scientists for Future engagieren, wird eine Neuausrichtung der Klimastrategie verlangt. Da von der Politik alleine keine Lösung kommen wird, müssen Organisationen und Privatpersonen stärker als bisher aus eigenem Antrieb Klimaschutz betreiben. Hintergrund ist, dass seit wenigen Jahren auch Unternehmen, Institutionen (wie das Bundespräsidialamt) oder auch Privatpersonen negative CO2-Emissionen herbeiführen können. In dem Paper heißt es:

„Wir argumentieren, dass die existenzielle Bedrohung des Klimawandels auch eine unternehmerische und eine individuelle Verantwortung erzeugt, nämlich den CO₂-Abdruck des Unternehmens bzw. den eigenen Lebensstil im Sinne des Klimaschutzes so zu verändern, dass der persönliche CO₂-Fußabdruck schnell deutlich schrumpft. Dies gilt auch, wenn andere nicht so handeln. (…) Ein Vorreiter war Microsoft, da sich dieses Unternehmen das Ziel gesetzt hat, bis 2030 netto Null bei den laufenden Emissionen zu erreichen – und bis 2050 alle früheren Emissionen seit der Unternehmensgründung 1975 wieder aus der Luft geholt zu haben. Diese Strategie führte automatisch auch zu verstärkten Vermeidungsanstrengungen. (…) Dies ist nicht nur für Microsoft (dazu mehr unten) sondern für viele gut verdienende Unternehmen und für die vielen Millionen Einzelpersonen weltweit, die ein Jahreseinkommen von mehr als 100.000 € sowie ausreichend Vermögen haben, ohne finanzielle Überforderung möglich. Es fehlt oft nicht an Willen, sondern an Information über die Möglichkeit, Removal- bzw. Storage-Zertifikate (idealerweise für Speicherung in der Geosphäre statt in der Biosphäre) zu kaufen.“

Führt dies nicht zu einer Individualisierung von Klimapflichten bei gleichzeitiger Vernachlässigung des politischen Prozesses? Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen entsendet seit vielen Jahren regelmäßig Delegierte zu Weltklimakonferenzen. Auf der am 15.6.2023 beendeten Bonn-Konferenz zur Vorbereitung des UN-Klimagipfels COP 28 im Dezember nahmen zwei von uns teil. Und bei der COP 28 in Dubai ist u.a. Michael Evertz, der mit dem Fahrrad dorthin fährt, als unser Delegierter dabei. Wir vernachlässigen den internationalen politischen Prozess also nicht. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass internationale Verhandlungen zwischen Nationen die Menschheit bisher nicht auf einen kollaborativen Weg des Klimaschutzes gebracht haben. Gut 30 Jahre nach dem Erscheinen des ersten IPCC-Berichts und 27 Klimakonferenzen (COPs) später hat die Menschheit es nicht geschafft, die gefährliche Entwicklung zu verlangsamen oder gar umzukehren. Die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre nimmt nicht nur immer weiter zu, sondern sogar immer schneller: In den 1970ern betrug der Zuwachs im Jahresdurchschnitt 0,7 ppm/Jahr. In den 1980ern lag die Zuwachsrate bei 1,6 ppm/Jahr. Aktuell kommen im Jahr 2,6 ppm Erhöhung dazu. Wenn man die Klimakrise mit einer Fahrt der Menschheit im Nebel in Richtung einer Klippe vergleicht, so nimmt die Geschwindigkeit, mit der wir uns dieser Klippe nähern, immer mehr zu. Und wir wissen nicht einmal genau, wo sich die Klippe befindet.
Wenn nicht jede Organisation und jeder einzelne Mensch anfängt, darüber nachzudenken, ob bzw. wie ein „Netto-null-Lebensstil“ erreichbar ist – und ggf. konkrete Schritte in diese Richtung geht – dann wird die Erderhitzung weitergehen wie bisher.

Was Microsoft schafft, das kann das Bundespräsidialamt auch schaffen!

Mit freundlichen Grüßen
Jörg Tremmel
Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen / Scientists for Future / Universität Tübingen

PS: Und noch ein winziger kritischer Kommentar zum Schluss: Musste es bei dem gestrigen Stehempfang des Forum Bellevue zur Klimaneutralität ausgerechnet Fleischhäppchen geben?