Beitrag von Hannah Fisch, Praktikantin bei der SRzG.
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ so Art. 3 (1) des Grundgesetzes. Dass es hierbei nicht lediglich um die Gleichstellung von Frauen und Männern geht, wird gerne übersehen. Das Kind findet erst in Artikel 6 des Grundgesetzes Anklang; in der Unterordnung gegenüber den Eltern, die über seine Erziehung verfügen dürfen.
Kinder werden zwar, durch die Formulierung „alle Menschen“, formal gleichgestellt, sind aber in der Realität auf verschiedenen Ebenen dennoch benachteiligt. An diesem Punkt setzt das Werk über „Adultismus“ von Manfred Liebel und Philip Meade (Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder – Eine kritische Einführung) an.
Obwohl Kritik am ungleichen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern kein neues Phänomen ist, existierte bis jetzt kein grundsätzliches Werk über Adultismus.
Das Buch gibt einen Überblick darüber, wie Kinder in Deutschland systematisch benachteiligt werden, woraus diese Benachteiligung resultiert und was man dagegen unternehmen kann.
Die Autoren tragen alle relevanten Punkte zur Diskriminierung junger Menschen (wobei sie „junge Menschen“ und „Kinder“ synonym verwenden, was fragwürdig ist, aber hier in der Rezension beibehalten wird) zusammen.
Grundsätzlich wird Adultismus von den Autoren als Machtungleichheit zwischen Minderjährigen und Volljährigen und dementsprechend als eine Form der (Alters-)Diskriminierung verstanden (S.22 und vgl. S.148ff). Bezüglich der Definition von „minderjährig“ und „volljährig“ richten sich die Autoren nach den Vereinten Nationen, die die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ziehen.
Voraussetzung, dass Adultismus entstehen oder sich verstärken kann, ist in erster Linie die Unterscheidung zwischen „Kindheit“ und „Erwachsensein“, die laut den Autoren auf kapitalistische Strukturen zurückzuführen ist (S.169, 174). Der Verweis auf kapitalistische Strukturen ist kritisch zu betrachten, da auch in sozialistischen Gesellschaften, wie z.B. der DDR, kein antiautoritäres Erziehungsbild vorherrschend war.
Um dem Leser und der Leserin nahezubringen, wie Adultismus von jungen Menschen erlebt wird, nutzen die Autoren einige Beispielsätze – die den meisten Menschen vermutlich nicht gänzlich unbekannt sind. Nach Auffassung von Liebel und Meade sind Sätze wie „Rede keinen Quatsch“ oder „Das verstehst du noch nicht“ (vgl. S. 16f) adultistisch.
Das Kapitel endet mit einer Einschränkung. Die Autoren schlagen vor, den Begriff des Adultismus nur für die Gesellschaften zu verwenden, in denen das Erwachsensein in dichotomer Weise von Kindheit und Jugend abgegrenzt wird, und dieses Verhältnis schlussendlich problematisiert wird (S.41).
Für die Analyse des Adultismus in gesellschaftlichen Praxen wird ein historischer Rückblick unternommen, um sich anhand von Beispielen einen Überblick über Unterdrückung von Kindern in der Antike bis heute zu verschaffen. Obwohl die Unterdrückung von Kindern in der Regel normal war, konnten die Autoren bei manchen (indigenen) Völkern auch gegenteilige Beispiele finden (S.59ff).
Schließlich werden drei „Grundpfeiler“ des Adultismus in modernen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften betrachtet. Die Autoren unterscheiden hierbei zwischen der (Klein)Familie als „Keimzelle“, der Schule als „Hort“, sowie Recht und Politik als „Manifestation“ des Adultismus (vgl. S.64
Auf theoretischer Ebene sehen die Autoren Macht als Grundlage des Adultismus an (S.154). Macht jedoch sollte nicht nur als Unterwerfung unter den Elternwillen verstanden werden, sondern auch immer mit dem Widerstand gegen diesen gedacht werden (S.157).
Um nicht allein auf der theoretischen Ebene zu verharren, stellen sich die Autoren die Frage, was konkret getan werden muss, um Adultismus entgegenzuwirken und ihn zu bekämpfen. Zentral geht es den Autoren um eine neue Gesellschaftsordnung, in der alle Menschen unabhängig ihres Alters die gleichen Chancen und Voraussetzungen erhalten (S. 341f).
Erwachsene sollten sich zudem selbst reflektieren, in einem „kritischen Erwachsensein“ (S.226f). Dies beginnt z.B. mit der Hinterfragung und Überwindung des hierarchischen Verhältnisses in der Erziehung durch antipädagogische Konzepte (vgl. S.231f).
Die Schule nimmt eine zentrale Rolle ein, da sie durch fundamentale Machtasymmetrien gekennzeichnet ist. Die Autoren gehen so weit, dass sie die Schulpflicht grundsätzlich in Frage stellen und vorschlagen, sie gegen ein Bildungsrecht zu ersetzen (S.252).
Subjektive Kinderrechte (Rechte, die das Kind auch selbst in Anspruch nehmen kann), und daraus abgeleitet ein grundsätzlich reformierter Kinderschutz, würden ebenfalls eine Möglichkeit darstellen, um Adultismus entgegenzuwirken (S.268).
Wenn man sich am Konzept der Generationengerechtigkeit orientieren würde, so die Autoren, dann würde das Adultismus eindämmen. Dies könnte nicht zuletzt durch eine Reform des Wahlrechts geschehen (für bestehende Kohorten) und einen pfleglichen Umgang mit Ressourcen (für nachkommende Kohorten).
Das Zusammenwirken aller Elemente soll ausdrücklich nicht zu einer Umkehr von Machtpositionen führen. Vielmehr geht es den Autoren um ein Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen ohne Machtpositionen (S.344).
Liebel und Meade ist es gelungen, ein sehr umfassendes Konzept eines Phänomens zu entwickeln. Adultismus wurde in der Literatur bereits häufig umschrieben, aber bis dato existierte kein Werk, das in einem Zusammenspiel aus alltäglichen Beispielen und theoretischen Grundlagen die systematische Ungleichheit zwischen Volljährigen und Minderjährigen charakterisiert.
Das Ziel der Autoren, der Unterdrückung von Kindern einen Namen zu geben, ist durchaus als gelungen zu betrachten. Ihr Versuch, Adultismus als Diskriminierungsform zu verstehen, ist nachvollziehbar und aus wissenschaftlicher Sicht vertretbar. Die Gleichsetzung mit Antisemitismus oder Rassismus ist aber nur teilweise angebracht. Die Autoren formulieren beispielsweise, dass jungen Menschen eigene Räume zugeschrieben werden, die von der Welt der Erwachsenen abgetrennt sind („Kindheitsghetto“, S. 169). Da „Ghetto“ früher als Begriff für abgetrennte Wohnviertel für Juden gebraucht wurde und auch heute abwertend für Gegenden, in denen vorwiegend People of Colour leben genutzt wird, bedient sich diese Wortwahl – vermutlich unbewusst – antisemitischer und rassistischer Stereotype.
Sollte dieser Vergleich eine bewusste Provokation und Anspielung auf oben erwähnte Gegebenheiten gewesen sein, ist er abzulehnen, da eine Ausgrenzung von jungen Menschen aus gesellschaftlichen Räumen nicht mit der Abtrennung von Juden oder People of Colour aus dem gesamten öffentlichen Leben verglichen werden kann.
Interessant ist für die SRzG natürlich der Abschnitt über Adultismus im Kontext einer Wahlrechtsreform. Die Autoren vertreten hier eine ähnliche Position wie die SRzG, Kindern ein Wahlrecht per Geburt zuzuschreiben, für das sie sich eintragen lassen können, sobald sie den Wunsch verspüren, politisch mitzugestalten (Positionspapier Wahlen der SRzG, siehe zur Vertiefung auch Buch „Wahlrecht ohne Altersgrenze“ der SRzG).
Liebel und Meade schlagen vor, die Schulpflicht aufzuheben und stattdessen ein Bildungsrecht einzuführen. Diese Forderung ist kritisch zu betrachten, vor allem wenn man ihre Positionen zu Kinderarbeit und im speziellen Kindersoldaten miteinbezieht. Die Autoren sind der Ansicht, dass ein Arbeitsverbot für Kinder, wie es z.B. in Deutschland gilt ein Ausdruck des Adultismus sei. Das Arbeitsverbot für Kinder zu kritisieren zeigt, dass die Autoren sehr eurozentristisch denken. Dass beispielsweise ältere Kinder in Westeuropa neben der Schule arbeiten gehen, um sich etwas dazuverdienen ist natürlich unterstützenswert und hier sollte man sich auch dafür einsetzen, dass sie denselben Lohn wie Volljährige erhalten. Gerade für Länder in Lateinamerika argumentieren die Autoren jedoch, dass die Kinder freiwillig arbeiten, um z.B. ihre Eltern zu unterstützen. Zum einen könnte man sich hier fragen, ob den Kindern die Arbeit zu erlauben die bessere Möglichkeit ist, als die Eltern zu unterstützen, damit die Kinder Bildung erhalten können. Zum anderen könnte man es als Ausdruck von Adultismus verstehen, wenn Kinder ihr eigen verdientes Geld für ihre Familien ausgeben müssen.
Liebel und Meade gehen sogar so weit zu behaupten, Kindern per se die Teilnahme an einem bewaffneten Konflikt zu untersagen, sei nicht vertretbar. Diese These ist völlig unhaltbar.
Liebel und Meade haben es dennoch geschafft, mit ihrem Werk die grundsätzliche Frage nach der Rolle der jungen Menschen in der Gesellschaft zu stellen, ohne eine Umkehr von Machtverhältnissen herbeizurufen. Das Buch eignet sich für Leser:innen, die sich bisher kaum mit der Diskriminierung junger Menschen beschäftigt haben, aber auch für solche, die schon länger damit arbeiten und für alle, die ihren eigenen als sicher verstandenen Blickwinkel auf Kinder erweitern und hinterfragen wollen. Man muss nicht mit jedem Vorschlag der Autoren einverstanden sein, vielmehr kann das Buch – gerade für junge Menschen – als Anreiz dienen, eigene Ideen zu entwickeln.