Gastbeitrag von Anna Graf und Jessica Zürn. Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass wir in ein neues Zeitalter, das „Anthropozän“ eintreten werden, indem der Mensch verschiedene Erdsysteme beeinflussen und dauerhaft verändern wird. Zugleich ist eine starke Tendenz zum kurzfristigen Denken und Handeln in unserer Gesellschaft erkennbar. Kurzfristigkeit ist nicht immer schlecht, jedoch in Politikbereichen mit einem langen Zeithorizont besonders problematisch, beispielsweise bei der ökologischen Nachhaltigkeit, bei Investitionen in zukunftsweisende Forschung, bei der Reform des Rentensystems, sowie der Atommüllentsorgung.
Herausforderungen im Umgang mit künftigen Generationen
Um neue Möglichkeiten im Umgang mit den künftigen Generationen zu finden, haben wir uns verschiedene Designprozesse an-geschaut. Sie bieten unsere Struktur für kreatives sowie auch problem- und lösungsorientes Arbeiten. Im Mittel-punkt der Arbeit stehen die Bedürfnisse, Probleme und Interessen der lebenden Menschen. Mithilfe der jeweiligen Methoden werden in den vorgegebenen Phasen vorhandene Probleme entdeckt, Informationen gesammelt, ausgewertet und anschließend neue Lösungskonzepte entwickelt, getestet und optimiert. Designprozesse werden immer mehr außerhalb des klassischen Designens verwendet, wie beispielsweise in Innovation Labs einzelner Unternehmen. In den bisherigen Designprozessen wie dem „Human-Centered Design“ oder „User-Centered Design“ hat man die Möglichkeit, sich direkt mit den Nutzern und Stakeholdern auszu-tauschen und sie nach ihren Wünschen, Bedürfnissen, Interessen und der jeweiligen Situation zu befragen. Wenn wir aber mit künftigen Menschen arbeiten und den Fokus auf die noch nicht existierenden Generationen legen, dann ist dieser Austausch nicht möglich. Zukünftige Menschen haben keine Möglichkeit, sich uns mitzuteilen oder jemanden zur Rechenschaft zu ziehen, der vor-gibt, in ihrem Namen zu sprechen.
Eine große Herausforderung bei der Arbeit mit künftigen Generationen ist das sogenannte epistemische Problem – die Tatsache, dass die gegenwärtigen Generationen nur sehr begrenzt etwas über die Präferenzen und Interessen künftiger Generationen wissen können. Über die letzten Jahrhunderte sind manche Interessen und Bedürfnisse gleich geblieben, andere sind verschwunden und neue sind hinzukommen. Dieses Problem wird noch verschärft, da wir nicht in der Lage sind, die empirischen Folgen unseres Handelns genau vorherzusagen. Je weiter die Zukunft von uns entfernt ist, desto weniger genau können wir sie bestimmen. Wie also können wir mit den zukünftigen Generationen arbeiten und diese verstehen, um ihnen in der Gegenwart eine Stimme zu geben?
Ein neuer Ansatz für einen Designprozess, der zukünftige Generationen integriert
„Generation-Centered Design“(GCD) ist ein neuer Designprozess, der seinen Betrachtungsradius auf die zukünftigen Ge-nerationen erweitert, um eine bessere Balance zwischen den Interessen der Gegenwart und der Zukunft zu erreichen. Dieser neue Ansatz für einen Prozess wurde in unserer Masterarbeit erarbeitet und bietet erste Arbeitsstrukturen und Methoden.
Der dreiteilige Prozess beginnt mit dem „Understand Part“, bei dem verschiedene erlebbare Zukunftsszenarien untersucht werden. Im zweiten Teil, dem „Solution Part“, werden neue Lösungsvorschläge und Maßnahmen entwickelt, welche es er-möglichen sollen, in eine wünschenswerte Zukunft zu gelangen. Der letzte Teil des Prozesses ist der „Compare Part“, in dem die im „Solution Part“ entwickelten Maßnahmen mit der Gegenwart abgeglichen werden. Hierbei setzt man sich mit folgen-der Fragestellung auseinander: Welche Auswirkungen haben die Maßnahmen auf die gegenwärtigen Generationen?
In der Masterarbeit lag der Fokus auf dem ersten Teil des Prozesses, welcher sich mit den „unborn Stakeholder“ auseinandersetzt. Der „Understand Part“ ist in sechs Phasen aufgebaut: Define, Discover, Create, Experience, Reflect und Evaluate. Ziel ist es, zukünftige Stakeholder greifbarer zu machen und Empathie zu ihnen aufzubauen, indem wir Zukunftsszenarien erlebbar gestalten. Da wir uns nicht mit künftigen Menschen unterhalten können, nutzen wir das Erleben von verschiede-nen Szenarien als notwendigen Zwischenschritt, indem wir versuchen, uns in eine potentielle Zukunft hineinzuversetzen, um zu verstehen, welche Auswirkungen unser Handeln auf den Alltag zukünftiger Menschen haben könnte. Ziel ist es, einen Diskurs über verschiedene Zukunftsszenarien anzuregen, um die daraus gewonnen Erkenntnisse und Überlegungen für die Handlungen in der Gegenwart zu nutzen.
Die auditive imaginäre Zeitreise
Die „auditive imaginäre Zeitreise“ ist eine von uns entwickelte Methode und Möglichkeit, um Zukunftsszenarien erlebbar zu gestalten. Es ist eine Art Hörbuch in Form eines Gedankenspiels, das den Zuhörer in die Situation einer zukünftigen Person hinein-versetzt, sodass er die Welt aus einer anderen Perspektive erlebt. Hierbei durchläuft der Zuhörer einen Tagesablauf, welcher mit Beobachtungen, Eindrücken, Gedanken und Interaktionen mit Menschen und Geräten gefüllt ist. Jedes Zukunftsszenario ist aus drei verschiedenen Perspektiven erlebbar (jüngere, mittlere und ältere Generation). Oft können sich die Zuhörer:innen am besten mit einer Zukunftspersona aus der gleichen Altersstufe identifizieren. Dennoch ist es uns wichtig, dass jeder versucht, sich auch in die anderen Generationen hineinzuversetzen, um möglichst verschiedene Blickwinkel auf das Szenario zu bekommen. Die „auditive imaginäre Zeitreise“ ist eine Einladung, sich in zukünftige Situationen hineinzuversetzen und verschiedene mögliche Zukünfte zu entdecken. Sie besteht aus fünf aufeinander aufbauenden Phasen: Intro, Warm-Up, Eintreten in die Zukunft, Zeitreise und Aus-treten aus der Zukunft. Ziel dieser Methode ist es, durch einen Perspektivwechsel mehr Empathie für künftige Generationen zu schaffen. Sie bietet eine Grundlage für das Arbeiten mit den ungeborenen Menschen und verschiedenen Zukunftsszenarien.
Um eine „auditive imaginäre Zeitreise“ zu erstellen, werden mithilfe von Zukunftsforscher:innen, Expert:innen oder Fachliteratur verschiedene Zukunftsszenarien ermittelt. Anschließend wird für jedes Szenario je eine Zukunftspersona erstellt, die jeweils eine der drei oben genannten Generationen vertritt. Im nächsten Schritt setzt man sich mit dem Alltag der jeweiligen Zukunftspersona auseinander. Dafür kann zum Beispiel das Template des „Future Wheels“ hilfreich sein, um die Auswirkungen auf den Alltag zu identifizieren. Anhand eines Storyboards können die gesammelten Informationen geordnet und in einen Tagesablauf der Zu-kunftspersona integriert werden. Auf Basis dieser einzelnen Notizen kann im Anschluss der ausführliche Text für eine „auditive imaginäre Zeitreise“ geschrieben werden. Der Text wird in der Du-Perspektive geschrieben, wodurch die Zuhörer:innen das Gefühl bekommen, selbst im Körper des Protagonisten zu sein und das Zukunftsszenario aus seinen Augen zu erleben. Das Ziel hier ist es, einen möglichst immersiven Perspektivwechsel zu erreichen. Ein weiteres wichtiges Element ist die Interaktion mit Geräten oder Menschen, welche das auditive Zukunftsszenario erlebbarer gestaltet. Damit können Informationen über das Szenario nicht nur vom Erzähler, sondern auch von anderen Menschen weitergegeben werden, beispielsweise von der Nachbarin oder dem Nach-richtensprecher. Am Ende kann der jeweilige Text professionell von einem Sprecher aufgenommen oder selbst in einem Workshop vorgelesen werden.
Hörprobe einer „auditiven imaginären Zeitreise“
Text der „auditiven imaginären Zeitreise“
Das Konzept wird zusätzlich hier in einem Video erklärt.
Grundbedürfnisse und Menschenrechte künftiger Generationen
Nach dem Erleben der Zukunftsszenarien können diese auf Grundlage zweier Wertmaßstäbe bewertet und analysiert werden. Die Ungewissheit bezüglich der Interessen und Bedürfnisse zukünftiger Generationen verliert an Bedeutung, wenn man sich schlicht auf die Grundbedürfnisse aller Menschen bezieht, welche früher, heute und somit wahrscheinlich auch in der Zukunft gelten werden. Anhand der Grundbedürfnisse kann überprüft werden, ob in dem jeweiligen Zukunftsszenario die Menschen die Möglich-keit haben, diese zu befriedigen. Zu den Grundbedürfnissen bieten auch die Menschenrechte ein großes Potenzial im Umgang mit künftigen Generationen. Aktuell gelten sie zwar nur für die existierenden Menschen, jedoch können sie genutzt werden, um beispielsweise die Interessen künftiger Generationen im Sinne der Menschenrechte zu formulieren. Das bietet die Möglichkeit der Kurzsichtigkeit und Tendenz, die Interessen zukünftiger Generationen zu vernachlässigen, entgegenzuwirken.
Autorinnen
Anna Graf und Jessica Zürn absolvierten ihre Masterarbeit „Generation-Centered Design: Faire Zukunftsgestaltung für künftige Generationen“ gemeinsam an der Hochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd im Studiengang „Strategische Gestaltung“. Dieser Text ist eine starke gekürzte Version ihrer Masterthesis, welche sich mit der folgenden Forschungsfrage auseinandersetzte: „Wie können wir als strategische Gestalter:innen, zukunftsorientierte Institutionen bei ihrer Arbeit mit den ‚unborn Stakeholder’ unterstützen, um eine besser Balance zwischen den legitimen Anliegen der Gegenwart und den potenziellen Interessen zukünftiger Generationen zu erreichen?“
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