Gastbeitrag von Patrick Léon Gross.

Vor der Bundestagswahl 2021 traten Klimaaktivisten in einen trockenen Hungerstreik. Nach 26 Tagen ohne Nahrung forderten sie ein öffentliches Gespräch mit den Kanzlerkandidat*innen über den dringenden Handlungsbedarf in der Klimakrise – oder sie würden ihren Streik fortsetzen. Der Hungerstreik der „Letzten Generation“ stellt ein Novum in der Geschichte des Umweltaktivismus dar.

Hinweis der SRzG: Gastbeiträge sind unabhängig von den Forderungen und Positionen der Stiftung Generationengerechtigkeit (SRzG) oder den Auffassungen ihrer Organe. Die Stiftung gibt durch Gastbeiträge externen Personen die Möglichkeit, sich zu Themen der Generationengerechtigkeit zu äußern.

Hungern, um zu leben: Warum verweigerten junge Menschen das Essen?

Nach 26 Tagen ohne Nahrung, zwei Tage vor der Bundestagswahl 2021, treten Henning Jeschke und Lea Bonasera, zwei Klimaaktivisten der Graswurzelinitiative „Extinction Rebellion“, in einen trockenen Hungerstreik. Ihre Forderung ist einfach: Entweder die drei Kanzlerkandidaten erklären sich bereit, ein öffentliches Gespräch über den dringenden Handlungsbedarf in der Klimakrise zu führen, oder die Aktivisten setzen ihren Streik für weitere 72 Stunden fort – ein sicheres Todesurteil.

Der Name der Gruppe, „Hungerstreik der letzten Generation“, impliziert eine historisch einmalige Verantwortung, das Überschreiten der empfindlichen Klima-Kipppunkte von 1,5 °C Erwärmung zu verhindern. Im Pariser Abkommen hatte man sich darauf geeinigt, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter möglichst auf 1,5°C und maximal auf 2°C zu begrenzen (Art. 2, Abs. 1). Nach Ansicht von Erdsystemwissenschaftlern wird das Überschreiten dieser Grenze zu irreversiblen und unvorhersehbaren Veränderungen in der Geophysik der Erdatmosphäre führen, mit enormen Folgen, die von Hitzewellen und Meeresspiegelanstieg bis hin zu Massenmigration und Krieg reichen.

Wie können wir dem Protest aus der Perspektive der Generationengerechtigkeit verstehen?

Im Geiste des offenen Dialogs und der kritischen Reflexion beschäftigt sich die „Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen“ (SRzG) mit Fragen der Generationengerechtigkeit. Wenn Personen sich als Vertreter*innen der „Letzen Generation“ bezeichnen und dafür sogar in den Hungerstreik treten, so sollte das von der SRzG aufgegriffen werden. Schließlich löste der Protest in den deutschen Medien und darüber hinaus eine weite Kontroverse aus. Also: warum erregte er so viel Aufmerksamkeit und was können wir daraus lernen?

Der Hungerstreik der „Letzten Generation“ stellt ein Novum in der Geschichte des Umweltaktivismus dar: Noch nie haben junge Menschen zu solch drastischen Mitteln gegriffen, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Dabei ist der Protest kein Symptom jugendlichen Leichtsinns oder ideologischer Radikalisierung, sondern vielmehr das Überlaufen eines Fasses voller Klimaangst und Ökotrauer einer jungen Generation, deren Perspektiven in modernen Demokratien strukturell unterrepräsentiert werden.

Sind junge Menschen Natur, die sich selbst verteidigt?

Die junge Generation wächst mit dem Wissen auf, dass ihre Zukunft von einem bedrohten Planeten abhängt, was sie empfänglicher für Signale von Umweltzerstörung macht als jede Generation vor ihr. Die verkörperte Fähigkeit, Veränderungen im Erdsystem zu spüren, zu hören und zu antizipieren, wird ein Schlüssel zur Gestaltung politischer Institutionen sein, die der tief verwurzelten Abhängigkeit der Menschheit mit der mehr-als-menschlichen Welt gerecht werden. Unsere Politik muss Wege finden, um die neue Generation einer „seismographischen“ Jugend besser zu vertreten. Gelingt dies nicht, so werden wir in naher Zukunft noch viele weitere Hungerstreiks erleben.

Die letzte Generation? Hungerstreiks, Alter und Gerechtigkeit bei der deutschen Klimawahl 2021

Patrick Léon Gross ist Forscher und Aktivist für urbane Nachhaltigkeitstransformationen. Dieser Text ist eine stark gekürzte Version seiner Arbeit, die u.a. auch noch auf die Konzepte der Gerontokratie, des Ökosuizids, des intersektionalen Umweltschutzes und der Spieltheorie sowie die Frage, was es bedeutet ein*e gute*r Vorfahr*in im 21. Jahrhundert zu sein, eingeht.