von Moritz Czygan, SRzG-Botschafter

In letzter Zeit denke ich oft darüber nach, wie wir auf diese Zeit zurückblicken werden und – vor allem – wie sie uns verändert. Eine Antwort habe ich nicht. Dass sie uns verändert, ist klar.

Das Wort „Krise“ wurde in den letzten Jahren inflationär benutzt. Oft zu Recht, siehe Klimakrise – oft zu Unrecht, siehe Flüchtlingskrise.
Jetzt haben wir allerdings wirklich eine. Und zwar eine dramatische. Viele Menschen sterben, noch mehr Menschen leiden und jede und jeder spürt die Auswirkungen. Und das alles wegen Corona.

Momentan bin ich in Mailand. Eigentlich zum Studieren, aber das läuft jetzt nur noch online. Richtig in die Uni gehen werde ich hier nicht mehr.

Als Hauptstadt der Region Lombardei ist Mailand mitten in einem der Zentren der Coronakrise. Jeden Tag hören mein Mitbewohner und ich um 18 Uhr die aktuellen Zahlen: Neuinfizierte, Todesfälle, Anzahl der Intensivpatienten. In den letzten Wochen war das Horror. Es wollte einfach nicht aufhoeren.

Das hat sich mittlerweile zumindest ein wenig geändert. Die Zahl der Intensivpatienten sinkt. Die Zahl der täglichen Todesfälle geht langsam – ganz langsam – ein wenig zurück. Dennoch wurden sämtliche Beschränkungen in ganz Italien verlängert. Und die Regionen konnten die geltenden Massnahmen noch einmal verschärfen. Das hat die Lombardei getan. Während man in Deutschland noch normal joggen und spazieren gehen, können wir uns hier nur in einem Radius von 200 Metern um unsere Wohnung herum bewegen. Draussen herrscht strenge Maskenpflicht, am Eingang des Supermarktes wird Fieber gemessen. Für mich sinnvolle Massnahmen. Anfang Mai ist der Eintritt in die sogenannte Phase 2 geplant. Erste Geschäfte sollen dann wieder aufmachen, auch die Parks wieder geöffnet werden.

 

Corona und Generationengerechtigkeit

Die Situation in Deutschland kriege ich über Internet und in den vielen Telefonaten mit Familie und Freunden mit. Auch die Debatte um die „Wiederöffnung“, das „Wann?“ und das „Wie?“.

Die Debatte darüber richtig finde, allerdings stutze ich bei manchen Rufen nach einem schnellen Wiederhochfahren.
Wenn ausgewiesene Expertinnen und Experten raten, momentan weiter daheim zu bleiben, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, sollte das die klare Richtung sein. Finde ich. Die Wirtschaft kann nicht sterben, Menschen schon.

Ja, ich weiβ, dass das einen für die Wirtschaft massive Probleme geben wird. Vor allem für Selbstständige, Freiberufler*innen und für kleine Unternehmen und deren Mitabeiter*innen. Da gibt es durch die aktuelle Lage ganz viele, ganz tragische Schicksale. Gleichwohl sollte es nie zu einer Situation kommen, in der Ӓrzt*innen entscheiden müssen, welches Leben gerettet werden soll – nur, weil nicht genug Ausrüstung fuer alle vorhanden ist. Niemals.

Und hier kommt jetzt auch die Generationengerechtigkeit ins Spiel.
Momentan hört man oft, dass die jüngeren Generationen jetzt für die Ӓlteren sorgen, indem sie zu Hause bleiben. Das stimmt. Dennoch glaube ich, dass wir gerade damit auch etwas wichtiges für die Rechte zukünftiger Generationen machen. Indem wir jetzt Solidarität miteinander zeigen, uns einander helfen, signalisieren wir, auf welchen Werten und auf welchem Menschenbild unsere Gesellschaft basiert. Und nur, wenn wir genau diese Werte – diese Solidarität – jetzt leben, tragen wir einen Teil dazu bei, dass die Werte auch für zukünftige Generationen gelten.

Was wir jetzt machen, ist unser Beitrag für eine zukünftige Welt, in der Solidarität kein theoretisches Konzept ist, sondern tagtäglich erlebt wird – nicht nur, besonders in Krisen. Diese Werte, dieses Füreinandersorgen in einer Gesellschaft kann durch nichts ersetzt werden.
Dass Argument, dass zukünftige Generationen die zur Abschwächung der wirtschaftlichen Notlage aufgenommenen Schulden mit zurückzahlen müssen, greift hier zu kurz. Nochmal: Die Wirtschaft kann nicht sterben. Menschen schon.

 

EU: Wenn nicht jetzt, ja wann denn dann?

Ich glaube, dass Deutschland in Hinblick auf die stärker betroffenen Länder gerade einen Fehler macht.
„Das Virus entfernt das Herz der Italiener vom europäischen Traum“, so titelte die italienische Zeitung „La Repubblica“ einen Artikel, in dem eine Studie zitiert wird, laut der die Zustimmungswerte fuer die EU in Italien auf ein Rekordtief gesunken sind.

Momentan bringen mich die Debatten in Italien und in Deutschland in eine seltsame Lage.  Ich sitze irgendwie zwischen den Stühlen. Deutsche Zeitungen verbreiten üble Vorurteile gegen Italien. [1] Italienische Medien schimpfen über Deutschland. Beides geht natürlich gar nicht. Deutschland muss verstehen, dass kein Land selbst verschuldet in diese Krise geraten ist. Und kein Land kommt alleine wieder da raus.

Aber zusammen kann Europa diese Krise überstehen und die EU am Ende sogar gestärkt werden. Jedoch eben nur, wenn die EU zeigt, dass es um Europa geht und nicht nur um die einzelnen Nationalstaaten. Die EU-Mitglieder müssen gemeinsam mehr Mittel bereitstellen, um die Gefahren der Pandemie für die Gesundheitswesen und für die Wirtschaft in den am meisten betroffenen Ländern abzuschwächen.

Das Zögern gerade von Deutschland und den Niederlanden hat die EU meiner Meinung nach in eine höchst gefährliche Lage gebracht. Wenn die EU in solch einer Krise nicht zusammenhält, ja wann denn dann? Ständig wird über Solidarität geredet. Ja, bitte, jetzt ist genau die richtige Zeit dafür. Was ist die EU und – vor allem – was will sie sein: nur ein Wirtschaftsraum oder auch Solidargemeinschaft? Strenge Auflagen für die Kreditvergabe erscheinen mir in einer Notlage, die nicht durch schlechtes Wirtschaften, sondern durch eine globale Pandemie ausgelöst wurde, wenig sinnvoll. Es braucht jetzt ein gemeinsames Schuldeninstrument. Ob die Antwort dann Eurobonds heiβt, Coronabonds, oder ganz anders, ist egal. Zumindest von den strengen Auflagen möchte die EU laut des gerade beschlossenen Corona-Hilfspakett jetzt absehen.
Gerade erreicht mich aber die Nachricht, dass Italien wohl den Teil der Hilfen, der aus dem Euro-Rettungsfonds ESM stammt, nicht annehmen möchte. Die Ablehnung des ESM sind eine Forderung aus den Gründungstagen der 5-Sterne-Bewegung. Und die sitzt jetzt mit in der Regierung.

Für die Zukunft wünsche ich persönlich mir eine Art europäische Arbeitslosenversicherung. Das wäre ein Projekt, das meiner Meinung nach sowohl sinnvoll wäre, als auch groβe Symbolkraft für ein Europa hätte, das zusammenhält und hilft, wo es gebraucht wird. Dabei darf nämlich auch nie vergessen werden: Die Mitgliedsstaaten, die heute wirtschaftlich stärker sind als andere, können auch schnell in eine Situation geraten, in der sie selbst Unterstützung brauchen. Man erinnere sich an die Dikussionen Anfang der 00er Jahre um den „kranken Mann Europas“. Sein Name: Deutschland.

Wichtig ist, dass die ideologische Scheuklappen auf beiden Seiten endlich abgesetzt werden. Einfach ausgedrückt: Der EU geht es politisch und wirtschaftlich nur gut, wenn es ihren Mitgliedsländern gut geht.

 

Andrà tutto bene? Ja, aber…

Man lernt in so einer Situation wie jetzt erstaunlich viel über sich selbst. Ich hätte eigentlich immer gedacht, in solch einem Moment in Panik zu geraten. Das ist nicht passiert. Ich bin eher ruhiger und mache Dinge, über die ich die Kontrolle habe. Schreibe – endlich mal frühzeitig – Hausarbeiten, koche jeden Tag, mache ab und an ein Home-Workout. Irgendwie Routine schaffen in einer Zeit, in der nichts Routine ist.

Gleichzeitig sorgt man sich auch ohne Symptome und mit Maske im Gesicht im Supermarkt, ob man nicht vielleicht doch schon Corona hat und jemanden anstecken könnte. Man ist hypervorsichtig. Richtig so. Zu vorsichtig gibt es gerade nicht. Und ganz ehrlich: Ich klage hier auf hohem Niveau. Wirklich Angst und Bange wird mir, wenn ich daran denke, was in den Flüchtlingslagern passieren wird, wenn Corona dort anfängt zu wüten.
Oder daran, wie Länder, die eben kein so gutes Gesundheitssystem haben wie Deutschland mit steigenden Infektionszahlen umgehen werden. In Italien, Spanien und den USA sieht man es ja jetzt schon, und dort gibt es zumindest noch mehr oder minder funktionierende Systeme.

Und dann ist auch irgendwo immer der Gedanke: Es wird vorbeigehen.

Gegenüber am Fenster hängt ein buntes Bettlaken auf dem „andrà tutto bene“ steht. Alles wird gut. Das stimmt. Aber nicht von selbst. Nur, wenn jetzt alle mitmachen. Polititsch oder indem man eben einfach zu Hause bleibt. Corona wird uns verändern – wie, werden wir sehen.