von Carl-Georg Christoph Luft, SRzG-Botschafter

Schockstarre: Coronavirus

Der durch das Coronavirus hervorgerufene exogene Schock stellt Europa wahrlich vor eine nie dagewesene Bewährungsprobe für die internationale und intergenerationale Solidarität. Die Europäische Union wurde einst „[…] in dem Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken […]“[1] gegründet. Seit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon durchlebte und überlebte diese Staatengemeinschaft in Teilen oder in Gänze multiple Stresstests, allen voran eine von der Finanzkrise ausgehende Staatsschulden-, Banken- und Wirtschaftskrise. Hieraus abgeleitete Lehren und resultierende Konsequenzen divergieren entlang einer imaginären Achse von Nord nach Süd, die sich durch die gesamte Europäische Währungsunion zieht. Sinnbildlich und exemplarisch hierfür ist die saisonbereinigte Arbeitslosenquote der Erwerbspersonen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die zu Beginn diesen Jahres in Deutschland lediglich 5,6 Prozent, in Italien hingegen 29,3 Prozent und in Spanien gar 30,6 Prozent betrug.[2]

Obgleich die langfristigen Auswirkungen der gegenwärtigen Coronavirus-Pandemie auf die Wirtschaftsleistung und den Arbeitsmarkt der Mitglieder der Eurozone aufgrund des dynamischen Geschehens noch nicht vollständig quantifizierbar sind, zeichnet sich bereits ab, dass die ökonomischen Folgen dieser Krise ebenfalls von Nord nach Süd ungleich verteilt sein werden. Ein Grund hierfür liegt in der variierenden Höhe der Staatsschuldenquote, die den nationalen Budgetrahmen für fiskalische Gegenmaßnahmen unmittelbar diktiert und die Chancen und Gestaltungsspielräume für die künftigen Generationen mittelbar determiniert. Sie betrug im dritten Quartal des vergangenen Jahres in Italien bereits 137,3 Prozent und in Spanien 97,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und lag damit weit über der durchschnittlichen Verschuldungsquote der Eurozonenmitglieder.[3] Da sich das Selbstverständnis eines jeden Europäers auch aus Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union speist, der das Streben nach wirtschaftlichem und sozialem Zusammenhalt und die Förderung der Solidarität zwischen den Generationen manifestiert, stellt sich die Frage, wie und inwieweit die von der Pandemie in besonderem Maße betroffenen Ökonomien unterstützt werden können.

 

Spaltpilz: Coronabond

Fakt ist, dass wir Europäerinnen und Europäer in dieser Krise den von der Pandemie schwer getroffenen Länder der Eurozone, insbesondere Italien und Spanien, finanziell beistehen müssen, um gerade den künftigen Generationen die Möglichkeit für Wohlstand bewahren zu können. Beachtenswert ist aber auch, dass dieses ehrenhafte Ziel auf eine Art und Weise verwirklicht werden muss, die die Generationen europaweit eint und nicht spaltet.

Ein gegenwärtig vorliegender Vorschlag zur Sicherstellung der Liquidität im Unternehmenssektor, der der Europäischen Währungsunion nachhaltig schaden könnte, stellt die Einführung von Krisenanleihen mit gemeinschaftlicher Haftung dar, die weitläufig auch als Coronabonds bekannt sind. Hierdurch sollen Mittel in Höhe von insgesamt 1.000 Milliarden Euro bereitgestellt werden, welche wiederum von Covid-19 betroffene Länder abrufen können.[4] [5]

Derartige Gemeinschaftsanleihen, die durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus ausgegeben werden sollen, verbessern zweifelsohne den Zugang zu Kapital und dessen Konditionen für die hoch verschuldeten Mitgliedsstaaten im Süden der Europäischen Währungsunion, während sich die Refinanzierungsbedingungen für die solideren Länder im Norden merklich verschlechtern. Die finanziellen Ressourcen werden mutmaßlich bedarfsorientiert verteilt, wohingegen sich die hieraus ergebenden finanziellen Verpflichtungen auf Basis des Kapitalschlüssels der Europäischen Zentralbank, das heißt paritätisch je nach Anteil an der Bevölkerung und am Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union, zurückgezahlt werden müssen.

Ein augenscheinlicher Akt der Solidarität, welcher jedoch einen Spaltpilz zwischen die Völker Europas und deren junge Generationen treiben könnte. Da im Falle von Coronabonds die Konditionalität beziehungsweise die mit den Auszahlungen verbundenen Auflagen simpel und sehr gering gehalten und, wenn deren Einhaltung, wenn überhaupt, ex post überwacht werden sollen,[6] existiert ein enormes, nicht zu kontrollierendes, gar unüberschaubares moralisches Wagnis. Im derzeit debattierten Konstrukt, das de facto einem automatisierten und institutionalisierten intereuropäischen Transfer gleichkäme, geraten politische Entscheidungstragende zusehends in Versuchung, die abgerufenen Gelder, die sie ihrerseits nicht vollständig zurückzahlen müssen, nach partikularen, populistischen und parteipolitischen, jedoch nicht nach ökonomisch gebotenen Maßstäben zu allokieren.

In den vergangenen Tagen kokettierten bereits einige Regierungen sich an den nationalen Aushängeschildern einer vernetzten Welt, den jeweiligen Fluggesellschaften, beteiligen zu wollen. Es ist aber gerade nicht die Luftfahrtindustrie, die dringlich und vorrangig finanziell unterstützt werden sollte. Angesichts beschränkter Haushaltmittel und begrenzter Refinanzierbarkeit sollte der Fokus vielmehr auf der Sicherstellung der Liquidität kleiner und mittelständischer Unternehmen liegen. Letztgenannte sind es schließlich, die circa 98,0 Prozent aller italienischen und 99,9 Prozent aller spanischen Betriebe ausmachen, weit über 67,3 Prozent der italienischen und 60,9 Prozent der Wertschöpfung des Nichtfinanzbereichs erwirtschaften sowie 67,3 Prozent aller italienischen und 71,8 Prozent aller spanischen Erwerbstätigen beschäftigen.[7] Zusätzliche, nahezu bedingungslose Mittel stabilisieren und konservieren die nationalen Wirtschaftssysteme gar nicht oder nur begrenzt, wenn sie nicht auf eine politisch unabhängige Art und Weise zu den richtigen Firmen kanalisiert werden (können). Hierfür setzen europäische Krisenanleihen entsprechende Anreize, die letztlich nicht gänzlich ausgeräumt werden können. Wenn sich die Mitglieder der Europäischen Währungsunion gemeinschaftlich verschulden, in unterschiedlicher Höhe hierfür haften und die ausgezahlten Finanzmittel weder angemessen kollektiv kontrolliert, noch zielgenau und zielgerecht eingesetzt werden, besteht die reale Gefahr, dass der europäische Gedanke missbraucht wird. Denn die bereitgestellten Hilfen werden letztlich auch in den solventeren Staaten durch die Aufnahme neuer Schulden finanziert, die dort zusätzlich zu den nationalen Pandemieprogrammen von den künftigen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern getilgt werden müssen und bis dahin den politischen Gestaltungsspielraum erheblich einschränken.

Ohne klare, wirtschafts- und finanzwissenschaftlich fundierte Konditionen, deren Einhaltung zeitnah unabhängig überwacht werden kann, besteht nicht nur das Risiko der Redlichkeit innerhalb der Union und der Stabilität der Eurozone zu schaden, sondern auch Geister eines längst überwunden geglaubten Europas, die den Kosmopolitismus zugunsten des Nationalismus zurückzudrängen versuchen, weiter zu stärken. Folglich muss der Präzedenzfall eines automatisierten, institutionalisierten, schuldenfinanzierten, konditionsarmen, fragwürdig legitimierten, unzureichend debattierten, rechtlich umstrittenen, langfristigen, intereuropäischen Transfers mittels europäischer Krisenanleihen dringend vermieden werden.

Nun ist nicht die Zeit, politisch höchst umstrittene und derzeit keinesfalls konsensfähige Vorhaben unter dem Deckmantel der Krisenresponsivität voranzutreiben, aufzuzwingen und umzusetzen. Das Gebot der Stunde ist es auch nicht, die Union ad hoc nach Innen immer enger und nachhaltig zulasten der Souveränität ihrer Mitglieder zu verzahnen. Für eine angemessene Debatte über die grundlegende Ausrichtung, die unser Europa über Generationen hinweg prägen wird, ist schlichtweg keine Zeit. Ein solcher Schritt bedarf einer holistischen Abwägung der Argumente, Bedenken und Hoffnungen, des Fürsprechens, des Widersprechens, des Dissenses und des Konsenses. Vielmehr gilt es nun, die nationalen durch supranationale Pakete, die mit den Vorstellungen aller rasch in Einklang zu bringen sind, sinnvoll zu komplementieren. Die Zeit drängt.

 

Supplement: Coronafonds

Die kürzlich von der Eurogruppe aufgelegten Kreditlinien, Kreditprogramme und Kurzarbeiterinstrumente, die allesamt an detaillierte und eindeutige Erwartungen geknüpft sind, sind angemessene Antworten auf die wirtschaftlichen Herausforderungen dieser Pandemie. Zusammen betragen die von europäischen Institutionen zugesagten Hilfsprogramme  bis dato mehr als 1.600 Milliarden Euro. Freiwillige, einmalige Transferzahlungen seitens einzelner Mitgliedsstaaten könnten und sollten folgen, um die Solidarität zwischen den Ländern Europas unmissverständlich zu bekräftigen. Diese Anstrengungen sollten ferner durch innovative Instrumente, wie durch einen Europäischen Wiederaufbaufonds flankiert werden. Wie die Finanzierung und Mittelbereitstellung eines derartigen Fonds konkret ausgestaltet sein soll, ist politisch gegenwärtig noch nicht konkretisiert. Es zeichnet sich jedoch bereits ab, dass ein gemeinschaftlich getragener Fonds einen unternehmensseitigen Schuldenüberhang, der durch die staatlichen Kredite entsteht, vermieden und kleine wie mittelständische Familienbetriebe, die staatliche Beteiligungen wie externe Interventionen tendenziell vehement ablehnen, zügig mit Kapital versorgen könnte.

Der von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung karikierte Europäische Pandemiefonds, der auf einem eigenkapitalähnlichen Instrumentarium fußt,[8] ermöglicht sowohl die existenten Risiken, als auch die potentiellen Chancen unter den Mitgliedern der Währungsunion aufzuteilen.[9]

Die durch diesen Fonds gemeinschaftlich bereitgestellten Mittel werden ausschließlich denjenigen Betrieben zur Verfügung gestellt, deren objektiv ermittelte Bonität und Profitabilität im Vorkrisenzeitraum ihre Existenzfähigkeit im Nachkrisenzeitraum erwarten lassen. Auf diese Weise wird verhindert, dass nicht rentierliche Unternehmungen mit Kapital versorgt und so künstlich im Wirtschaftsleben gehalten werden.

Im Gegenzug verpflichtet sich die Firma, die Kapital aus dem Fonds erhielt, künftig eine temporär erhöhte Ertragssteuer zu entrichten. Die hieraus generierten zusätzlichen Steuereinnahmen fließen wiederum über die nationalen Finanzbehörden zurück in den Europäischen Pandemiefonds, in dem die Erträge den jeweiligen Staaten gutgeschrieben werden. Auf diese Weise müssen Unternehmen weder weitere Kredite aufnehmen, noch Eigentums- und Mitbestimmungsrechte abtreten. Gleichwohl sind die Staaten über den Fonds an den künftigen Gewinnen beteiligt, wenn sich die Wirtschaft nach Beendigung der akuten Krise erholt.

Richtig kalibriert ermöglicht solch ein Europäischer Pandemiefonds den hoch effizienten und zielorientierten Einsatz von Steuermitteln. Durch einen Dreiklang aus Kreditlinie, Sondertransfer und Fonds bekämpft Europa nicht nur wirksam die ökonomischen und nicht-ökonomischen Implikationen der Pandemie, sondern lässt zudem keinerlei Zweifel an der Wehrhaftigkeit seiner Währungsunion gegenüber Spekulationen zu. Dieser Zusammenhalt ist es, der den Euro stabilisiert und den europäischen Geist vitalisiert.

 

Zweifelsohne: Europa steht vor einer Bewährungsprobe. Abermals. Es ist vor allem eine Herausforderung für junge Europäerinnen und Europäer, die sich in Verzicht üben müssen, erstmals Grundrechte und Grundfreiheiten zugunsten Älterer und Schwacher nicht ausüben und fiskalische Lasten langfristig zu tragen haben.

Ich bin überzeugt, dass gerade die jüngere Bevölkerung Europas erkennt, wie essentiell in diesen Stunden Solidarität und Beistand auf allen Ebenen sind. Erasmus von Rotterdam, dessen Namen heutzutage wie kein anderer mit der Vernetzung junger Europäerinnen und Europäer verknüpft ist, proklamierte bereits vor einem halben Jahrtausend, dass die ganze Welt ein gemeinsames Vaterland sei.

In Zeiten, in denen einige Nationalisten das Europa der Vaterländer betrauern, ist es nun umso wichtiger, Umsicht und Weitsicht walten zu lassen. Nur durch Geschlossenheit und Entschlossenheit können wir das Europa, wie wir es kennen und lieben, auch für die künftigen Generationen bewahren und weiterentwickeln.

 

 

Quellenverweise:
[1] Auszug aus der Präambel des Vertrags über die Europäische Union
[2] Statista (2020): Europäische Union – Jugendarbeitslosenquote in den Mitgliedsstaaten im Februar 2020.
[3] Eurostat (2020): Staatsschuldenquote in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
[4] Hüther et al. (2020): Europa muss jetzt finanziell zusammenstehen. Institut der Deutschen Wirtschaft.
[5] Avbelj et al. (2020): The Case for Corona Bonds (SAFE Policy Letter No. 82).
[6] Blanchard (2020): Italy, the ECB, and the need to avoid another euro crisis. In: Mitigating the COVID Economic Crisis – Act Fast and Do Whatever it Takes. CEPR Press.
[7] Eurostat (2020): Annual statistics on small- to medium-sized enterprises in the European Union.
[8] Boot et al. (2020): Corona and Financial Stability 3.0: Try equity – risk sharing for companies, large and small (SAFE Policy Letter 81).
[9] Boot et al. (2020): Corona and Financial Stability 2.0: Act jointly now, but also think about tomorrow (SAFE Policy Letter No. 79).