Wie ich später den ungeborenen Kindern und Kindeskindern diese historische Chance für einen Neuanfang erkläre – und wie es ausging

von Rebecca Freitag, SRzG-Botschafterin und ehemalige UN Jugenddelegierte für Nachhaltige Entwicklung

 

Liebe Zukunft, liebe ungeborene Kinder,

könnt ihr euch vorstellen, dass wir damals vergessen hatten, dass auch ihr eines Tages hier gut leben wollt (wir nannten das Nachhaltigkeit)? Dass wir unsere eigene Lebensgrundlage zerstörten, indem wir unsere Böden, die Luft, die Flüsse vergifteten, die Pflanzen und Tiere fast vollständig ausrotteten? Dass wir Dinge produzierten, um sie wieder wegzuschmeißen oder zu verbrennen? Dass wir den Großteil unserer Lebenszeit mit Aktivitäten verbrachten, die uns unglücklich machten? Diese Welt war absurd. Sie machte uns Menschen und unseren Planeten krank.

Ausgerechnet ein Virus beendete das. Er unterbrach unser lautes und hektisches Leben. Alles kam zum Stillstand; die staugeplagten Straßen, die überfüllten Einkaufszentren, Schulen und Nachtclubs wurden leer. Es war eine Verschnaufpause für ein überhitztes System, was nicht mehr lange überlebt hätte. Jedoch kam diese Einsicht zu hohen Kosten und viel Leid.

Innerhalb weniger Wochen veränderte sich unser Leben dramatisch; wir beklagten viele Todesopfer, bangten um das Leben unserer Großeltern und um die Gesundheit unserer Liebsten, um unsere Arbeitsplätze, unseren Lebensunterhalt, um unsere Zukunft. Es war wahrlich nicht einfach, wochenlang in unseren Wohnungen zu verharren ohne Freunde und Familie zu sehen.

In dieser Zeit wurde deutlich, wer die wahren Helden und Heldinnen des Alltags waren: diejenigen, die uns pflegten und gesund machten, unsere Kinder ausbildeten, unsere Nahrungsmittel herstellten und verkauften, für sauberes Wasser und Strom sorgten, all diejenigen, die unser Leben am Laufen hielten und sonst wenig Beachtung und Wertschätzung erhielten.

Es war wohl die herausforderndste Situation für unser Land. Statt aber in einer Schockstarre zu verweilen, spürten viele von uns, dass dies die Gelegenheit für einen Neuanfang sei.

Denn in dieser Zeit der Stille wurde nicht nur die Luft klarer, sondern auch unsere Gedanken. Das hektische Treiben und die Ablenkungen des Alltags verschwanden. Was war uns wirklich wichtig im Leben?

Es war, als hätte jemand die Stopptaste unserer Welt gedrückt. Einfach wieder auf “Play” zu drücken, war keine Option. Oder wie wir damals sagten: Nicht weiter mit “business as usual”.

Wir sahen, wie Unmögliches möglich wurde.

Noch wenige Monate zuvor wurde der laute Aufschrei der jungen Generation nach mehr Klimaschutz und mehr Nachhaltigkeit von den Politikerinnen und Politikern müde belächelt und mit wenig wirksamen Maßnahmen beantwortet. Nun zeigte sich, dass die früheren Ausreden für eine nachhaltige Zukunft und Glaubenssätze bezüglich was alles nicht ginge für nichtig erklärt werden konnte.

Der lang ersehnte Umbruch war gekommen. Mit der Kraft der vielen Menschen, die sich nach einer positiven und sicheren Zukunft sehnten, konnten wir beweisen, dass eine krisensichere Zukunft automatisch eine nachhaltige Zukunft ist. Das möchte ich euch an drei Beispielen zeigen:

1.     Back to the roots. Zurück zu lokalen Wertschöpfungsketten:

Der Virus, der auf einem Markt in China ausbrach, bestimmte innerhalb weniger Wochen die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft auf jedem Fleck der Erde. Globale Lieferketten brachen zusammen, die Zahl der Arbeitslosen schoss in die Höhe, die Medien kannten kein anderes Thema mehr. Was zunächst wie ein kurzfristiges Hilfsprogramm aussah, wurde allmählich zu einem Trend:

Menschen aus der Region halfen bei der Ernte, Materialien und Ressourcen wurden aus benachbarten Regionen bezogen, die Menschen wurden erfinderisch und stellten selbst notwendige Produkte her. Kurzum: wir re-lokalisierten unsere Wertschöpfungsketten, verkürzten so die Lieferwege und globalen Abhängigkeiten, schafften Vertrauen und Identität, entdeckten lokale Pflanzenarten und lokales (indigenes) Wissen wieder, genossen leckerere und gesündere Lebensmittel und erschufen eine resiliente und nachhaltige lokale Wertschöpfung.

 

2.   Nachhaltiges Investment ist krisensicheres und zukunftsfähiges Investment 

Die Regierungen wollten der zusammengebrochenen Wirtschaft mit Konjunkturpaketen schnell auf die Beine helfen. Das war die lang ersehnte Chance, diese Milliarden an Euros und Dollars an zukunftsfähige, also nachhaltige Kriterien zu knüpfen und so den Unternehmen zur Transformation zu verhelfen. Alte uns schädliche Wege und Abhängigkeiten könnte so schneller verlassen werden.

Doch diese Sichtweise war keine Selbstverständlichkeit. Viele Politiker*innen spielten den Umweltschutz gegen die Wirtschaftsförderung aus, anstatt sie zusammenzudenken. Sie rieten zum Beispiel zum Aufschieben des damaligen notwendigen Kohleausstiegs oder des Europäischen Green Deals. Am Ende und mit viel Nachdruck aus der Bevölkerung entschieden sich die gewählten Volksvertreter und -vertreterinnen für den logischen Weg: Nachhaltige Investitionen, zum Beispiel in erneuerbare Energien, erzielen einen doppelten Effekt, sie stimulieren die Wirtschaft und beschleunigen den Ausbau der nachhaltigen Energieversorgung.

 

3. Wertschätzung korrigiert

Was würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen? Wir nutzen diese Frage damals, um unsere wirklich wichtigen Dinge im Leben zu identifizieren. Als wir wochenlang in unseren eigenen vier Wänden verweilen mussten, wurde uns glasklar, was die wirklich essentiellen Dinge im Leben sind: Wir riefen unsere Liebsten an und fühlten uns ihnen trotz der physischen Distanz, die fälschlicherweise soziale Distanz genannt wurde, so verbunden. Wir sehnten uns nach Bewegung und Erholung in der Natur.

Der Virus hatte den Verdienst, dass Überflüssiges entfernt wurde und das Essentielle ins Zentrum rückte. Wir merkten, dass die vielen Geschäftsreisen auch digital ersetzt werden konnten. Wir merkten, dass wir in unserem Leben den falschen Dingen Priorität und Wertschätzung gegeben hatten und überlegten gemeinsam, wie wir das in unserer Gesellschaft korrigieren könnten.

Ideen wie verkürzte Arbeitszeiten, das bedingungslose Grundeinkommen, die Kreislaufwirtschaft, das Lösen vom Jagen nach dem unendlichen Wirtschaftswachstum oder das Ersetzen des BIPs mit dem Messen des Beitrags zum Wohlergehen für Gesellschaft und Planet stießen nun auf offene Ohren.

 

Wie ihr seht, war der Weg in die neue nachhaltige Welt, die euer Leben ermöglicht, kein Spaziergang. Oft glaubten wir damals, dass die Krise uns auch auf einen Weg in eine noch düstere Welt führen könnte. Zum Glück gab es so viele mutige, engagierte und positive Menschen, die nie aufhörten an eure Zukunft, die Zukunft der Menschheit, zu glauben. Und so nutzen wir die Krise als Chance für den Neuanfang in eine nachhaltige Welt. Die Welt, in der wir heute leben.