So denken junge Brit*innen über den Brexit

Fast zwei Jahre nach der Abstimmung über den EU-Austritt und inmitten der Turbulenzen bei den Verhandlungen über ein mögliches Abkommen gibt es im Vereinigten Königreich immer noch sehr wenig Konsens über Brexit. Doch während es so viele Meinungen zu diesem Thema wie es Menschen gibt, die sie äußern können, haben Jung und Alt eins gemein: viel Unsicherheit. Für die Jugendlichen, von denen 73% im Referendum gegen Brexit gestimmt haben, werden die noch unklaren Folgen kurz- und langfristig andauern. Also, was halten sie davon?

Im Referendum stimmten über 70% der 18- bis 24-Jährigen für den Verbleib, während 60% der über 65-Jährigen für den Austritt stimmten.

Es ist schwierig, von jungen Menschen als einer homogenen Gruppe zu sprechen. Mithilfe Statistiken ergibt sich jedoch eine ziemlich klare Skizze der allgemeinen Meinung. Im Referendum stimmten über 70% der 18- bis 24-Jährigen für ‚Remain‘ (Verbleib), während 60% der über 65-Jährigen für ‚Leave‘ (Austritt) stimmten. Diese Polarisierung hat sich seither laut Umfragen nur noch verstärkt: 82% der 18- bis 24-Jährigen gaben im Sommer 2018 an, ein zweites Referendum zu wollen.

Diese Daten legen nahe: Je jünger jemand ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er den Verbleib in der EU unterstützt. So ist das Land im Durchschnitt aufgeteilt in die unter 45-Jährigen, die den Verbleib bevorzugen und die über 45-Jährigen, die den Austritt unterstützen. Viele junge Menschen glauben, dass die ältere Generation für etwas gestimmt hat, dass die Zukunft der jungen Menschen unwiderruflich schädigt. Kathryn (22), Chemieingenieurin, meinte genau das: „Ich bin enttäuscht, weil alles, was ich gesehen habe, waren ältere Menschen, die unbedacht behauptet haben, sie seien weise und hätten gesehen, wie die EU unsere Nation zum Schlechteren verändert hatte. Sie haben für eine Fantasie ohne Definition gestimmt, und die jungen Generationen hatten kein Interesse an Politik oder waren nicht alt genug zu stimmen.“

Natürlich variiert das Wissen und Interesse junger Menschen zum Brexit sehr stark. Während einige wegen des Impulses von Brexit viel stärker politisch engagiert sind, bleiben andere verblüfft über ihre Komplexität. Eine Teilnehmerin der bekannten Realit-TV-Show ‚Love Island‘ diesen Sommer zeigte genau das, als sie berühmt-berüchtigt fragte, ob Brexit bedeuten würde, dass es keine Bäume mehr geben würde. Dennoch wäre es unfair, der jüngeren Generation politische Unwissenheit oder Apathie vorzuwerfen, wenn viele ältere Erwachsene kaum mehr über Brexit und seine Auswirkungen wissen. Tatsächlich scheint es oft so, als wären die Minister*innen selbst ähnlich verwirrt.

 

Die jungen ‚Brexiteers‘

Jede*r vierte 18- bis 24-Jährige ist ein ‚Brexiteer‘ (stimmte für Brexit). Für viele von ihnen war die Frage der Einwanderung von zentraler Bedeutung. Viele jungen Menschen sind der Meinung, dass Immigration ihre beruflichen Perspektiven und den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung beeinträchtigt. Das Argument ist, dass Einwanderer derzeit Privilegien genießen, die in erster Linie britischen Bürgern angeboten werden sollten. Indem Brexit die Freizügigkeit von Arbeitnehmer*innen beenden wird, hoffen sie, dass diese vermeintliche Ungerechtigkeit auch zum Ende kommen wird.

Wahlzettel im EU-Referendum

Eine weitere übliche Ansicht ist, dass sich die EU in die britische Politik einmischt und dass es dem Vereinigten Königreich besser ergehen würde, wenn es in der Lage wäre, die Politik vollkommen selbst zu entscheiden. Die Fähigkeit, das Land ohne externe Regelungen zu regieren, spricht nicht nur die ältere Generation an, sondern auch einen (vielleicht konservativeren) Teil der jüngeren Generation. Alice (20), eine Medizinstudentin aus den Midlands, sagt, sie habe für einen Austritt gestimmt, weil sie der Meinung ist, dass die EU nicht demokratisch sei, in der Art und Weise, wie Brit*innen vertreten seien, und, dass sie an die verabschiedeten Gesetze halten müssten.
Darüber hinaus sind einige der Meinung, dass die EU versucht, Großbritannien zu bestrafen, indem sie bei den Verhandlungen kompromisslos auftritt. Sie argumentieren, dass die EU das Vereinigte Königreich dazu zwingen will, weiterhin finanzielle Beiträge zu leisten, und gleichzeitig andere Länder, in denen der Euroskeptizismus Einzug gehalten hat, abschrecken. Dass die EU Ausgleichszahlungen von rund 39 Milliarden Pfund erfordern, hat diesen Eindruck bei vielen Briten verstärkt, denen eine so hohe Summe absurd erscheint. Dies hat daher die Position derjenigen gestärkt, die für einen möglichst schnellen Brexit plädieren, auch wenn das zu einem harten Brexit führt (ein harter Brexit bedeutet einen EU-Austritt ohne ein zukünftiges Verhandlungs- oder Kooperationsabkommen).

Einige sind der Meinung, dass die EU versucht Großbritannien zu bestrafen, indem sie bei den Verhandlungen kompromisslos auftritt.

 

Wieso ist der Brexit für junge Leute so angsteinflößend?

Selbst für den nicht unerheblichen Anteil junger Menschen, die für Brexit gestimmt haben, ist die Unsicherheit nach wie vor beunruhigend. Für viele, die für einen Austritt gestimmt haben und sich jetzt nicht sicher sind, was die Zukunft bringt, sowie für die Jugendlichen, die gegen Brexit gestimmt haben, gibt es viele Ängste – nicht zuletzt darüber, welche Auswirkungen es auf den Arbeitsmarkt haben wird. Viele große Unternehmen – darunter Banken, Fluggesellschaften und Einzelhändler – haben bereits über die Verlegung ihrer Hauptverwaltungen auf das Festland gesprochen. Das bedeutet einen enormen Verlust an aktuellen und zukünftigen Arbeitsplätzen. In einer Zeit, in der junge Menschen auch vor Brexit mit immer mehr Arbeitsplatzunsicherheit konfrontiert waren, wird dies höchstwahrscheinlich gravierende Folgen für ihre Arbeitsmarktsituation haben.
Die britische Gesamtwirtschaft ist innerhalb der G7 von einer der am schnellsten wachsenden zu einer der langsamsten geworden, und das Pfund hat gegenüber dem Euro und dem Dollar deutlich an Wert verloren. Der Austritt aus der Zollunion (wie von der Regierung versprochen) wird zweifellos noch weitere wirtschaftliche Auswirkungen haben, aber was diese sein werden, ist umstritten. Einige behaupten, dass Geschäft und Handel schon am nächsten Tag wie gewohnt weitergehen werden. Andere sind ängstlicher – einige Menschen haben damit begonnen, Lebensmittel für den Fall von einem Mangel als Vorrat zu lagern, und große Supermärkte planen, was zu tun ist, wenn die Importe stark eingeschränkt sind. Sogar die Armee hat Pläne ausgearbeitet, um bei Bedarf Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff zu liefern. Im Jahr 2017 importierte das Vereinigte Königreich 30% aller Lebensmittel aus der EU. Die Lebensmittel- und Kraftstoffpreise sind seit dem Referendum bereits gestiegen, und das trifft diejenigen mit geringerer finanzieller Sicherheit am härtesten – junge Menschen, die vielleicht eine junge Familie zu unterstützen haben und oft niedrigere Gehälter als ihre älteren Kollegen bekommen, eingeschlossen.

Die britische Gesamtwirtschaft ist innerhalb der G7 von einer der am schnellsten wachsenden zu einer der langsamsten geworden.

Der Brexit wird die Freizügigkeit beenden. Aber die praktischen Aspekte sind ungewiss. Es ist noch unklar, ob ein Visum für britische Staatsbürger erforderlich sein wird, um in die EU zu reisen oder dort zu leben und umgekehrt. Dies wird viele junge Menschen betreffen, die bisher von der Möglichkeit, im Ausland zu studieren und zu arbeiten, profitieren können, nicht zuletzt durch das ERASMUS+-Programm. Dies wird nach Brexit höchstwahrscheinlich viel schwieriger und potenziell teurer werden, wodurch die jüngere Generation davon abgehalten wird, den Reiz und die Herausforderungen des Lebens oder des Besuchs in anderen Ländern zu erleben. Dies könnte durchaus zu einer Generation britischer Bürger führen, die zwangsläufig mehr von einer immer internationaleren Welt isoliert sind, was ihnen nicht nur prägende Erfahrungen und internationale Freundschaften vorenthält, sondern auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt beeinträchtigt.

Eine weitere, weniger greifbare, aber nicht weniger reale Angst ist, dass der Brexit das Vereinigte Königreich bereits jetzt intoleranter gemacht hat. Die allgemeine Atmosphäre ist seit dem Referendum deutlich rassistischer geworden, und diejenigen, die sich gegen der Einwanderung aussprechen, haben das Gefühl, dass ihre Stimme legitimer ist denn je. Symptomatisch für die Ermutigung von Menschen mit Anti-Immigranten-Tendenzen war die Auseinandersetzung über Antisemitismus innerhalb der Labour-Partei, und Boris Johnsons Rubrik im Telegraph, in der er sagte, dass Frauen, die die Burka tragen, wie Briefkästen aussehen. Für viele liberalere oder linksgerichtete Jugendliche, die im Allgemeinen offener und toleranter gegenüber Migranten sind als die ältere Generation, weckt dies die Befürchtung, dass das Vereinigte Königreich zu einem Ort der Intoleranz wird, der die Vorteilen des Multikulturalismus nicht ausschöpfen wird, die bereits in vielen Städten des Vereinigten Königreichs zu sehen sind.

Weitere wichtige Sorgen junger Menschen sind Sicherheitsmaßnahmen und Umweltstandards. Die EU teilt derzeit Sicherheitsinformationen über das Schengener Informationssystem, an dem das Vereinigte Königreich beteiligt ist, und ohne diese gemeinsame Datenbank und Zusammenarbeit wird es für das Vereinigte Königreich schwieriger sein, sich vor Sicherheitsbedrohungen zu schützen. Viele umweltbewusste Jugendliche wollen auch, dass die strengen Umweltvorschriften der EU, einschließlich Klimaschutzmaßnahmen und Agrarstandards, im britischen Recht beibehalten werden und nicht durch Handelsabkommen mit Ländern mit allgemein nachgiebigeren Regelungen, wie den USA, beeinträchtigt werden.

Die allgemeine Atmosphäre ist seit dem Referendum deutlich rassistischer geworden, und diejenigen, die sich gegen der Einwanderung aussprechen, haben das Gefühl, dass ihre Stimme legitimer ist denn je.

 

Eine zweite Chance für ‚Remainers‘?

Aufgrund der großen Besorgnis um den Brexit haben sich überzeugende ‚Remainers‘ (die, die für den Verbleib gestimmt haben) in Kampagnen und politischne Aktionen zum Brexit eingebracht, und dazu Tausende von jungen Menschen mobilisiert. Rund 100.000 Menschen nahmen an einem Protest zum zweiten Jahrestag des Referendums diesen Sommer in London teil, und fordeten ein zweites Referendum. Erin Bradshaw (20), die derzeit europäische Sprachen studiert, nahm daran teil. „Für mich stellt die Europäische Union die Möglichkeit einer Welt dar, in der wir die wichtigen Themen, wie Menschenrechte und Klimawandel, die jeden von uns betreffen, gemeinsam angehen können. [Brexit] ist ein Schritt zurück, in die andere Richtung von einer Welt globaler Lösungen“, sagt sie. Die Mehrheit der Menschen, die für den Verbleib gestimmt haben, ist ähnlich pessimistisch hinsichtlich der zukünftigen Fähigkeit Großbritanniens, globale Themen alleine zu gestalten.

In jüngster Zeit, Mitte Oktober, marschierte in einem weiteren Protest rund 700.000 Menschen durch London und verlangten ebenfalls ein zweites Referendum. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan und viele Abgeordnete aller großen Parteien nahmen teil, neben Menschen jeden Alters aus dem ganzen Land, darunter viele junge Familien und Menschen, die zum Zeitpunkt des Referendums 2016 noch zu jung waren, um zu wählen. Sie sind der Meinung, dass sie ein Mitspracherecht in der Brexit-Debatte haben sollten, da es ihre Zukunft ist, die betroffen sein wird.

Der Protest im Oktober wurde von der ‚People’s Vote‘ Kampagne organisiert, die sich für ein zweites Referendum einsetzt. Die Liberaldemokraten sind derzeit die einzige politische Partei, die sich dafür ausgesprochen hat. Einige jungen Menschen sind auch gleicher Meinung. Thomas Tozer (25), Forscher für Philosophie und Politik, ist der Ansicht, dass „wir jetzt eine zweite Abstimmung haben sollten, weil die Wähler viel besser darüber informiert sind, was Brexit eigentlich bedeutet“. Das ist genau die am häufigsten genannte Begründung für ein zweites Referendum. Obwohl die Idee besonders bei jungen Menschen viel an Popularität gewonnen hat (eine Petition, die von kurz vor dem Referendum bis zum November 2016 lief, erhielt innerhalb von sechs Monaten über 4 Millionen Unterschriften), behaupten viele, dass ein zweites Referendum undemokratisch wäre. Es bleibt abzuwarten, ob die Regierung dem Appell der Demonstranten nachkommen wird.

 

Ein politischer Wendepunkt

Es besteht kein Zweifel, dass Brexit einen beträchtlichen Teil der Zeit und der Ressourcen der Regierung verschlingt und deshalb die Aufmerksamkeit von anderen drängenden Themen wie Bildungs- und Justizreform, Außenpolitik, Wohnung, und den Gesundheitsversorgung ablenkt. Dies führt dazu, dass andere Themen, die den Alltag Tausender junger Briten entscheidend beeinflussen, nicht die politische Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Jeder – Jung und Alt, für und gegen Brexit, Unternehmen und Einzelpersonen – würde mehr Sicherheit über Brexit und die Bedingungen eines zukünftigen Handelsabkommens begrüßen, aber nicht auf Kosten aller anderen politischen Fortschritte. Dies könnte den ohnehin schon schwachen Glauben an den politischen Prozess weiter untergraben.

Jeder – Jung und Alt; für und gegen Brexit; Unternehmen und Einzelpersonen – würde mehr Sicherheit über Brexit und die Bedingungen eines zukünftigen Handelsabkommens begrüßen, aber nicht auf Kosten aller anderen politischen Fortschritte.

Es ist unmöglich genau zu wissen, was die Folgen des Brexits sein werden. Am wahrscheinlichsten werden sie irgendwo zwischen dem bestmöglichen Ergebnis, das von ‚Brexiteers‘ verbreitet wird, und dem von ‚Remainern‘ befürchteten Schlimmstfall-Szenario liegen. Hoffentlich wird Brexit die Mitglieder der jüngeren Generation, egal wie sie abgestimmt haben, an die Bedeutung politischer Partizipation erinnern, statt sie noch mehr vom politischen Entscheidungsprozess zu enttäuschen und abzuhängen.

 

von Emily Ford
Emily kommt aus der Nähe von London und studiert am King’s College London. Sie hat beim Referendum mitgestimmt. Sie verfolgt die aktuellen Entwicklungen zum Brexit aufmerksam und will, dass eine nachhaltige Lösung gefunden wird.