von Hannah Schmitt und Helene Weinbrenner, Praktikantinnen der SRzG.
Europa hat gewählt! In Sachen Wahlrechtsabsenkung stellte die Europawahl 2024 einen kleinen Schritt in die richtige Richtung dar: In Deutschland, Österreich, Belgien, Malta durften erstmals 16-17jährige wählen, in Griechenland wurde das Wahlalter auf 17 gesenkt (Euronews 2023). Übrigens mussten sich die rund 280.000 minderjährigen, neu wahlberechtigten Belgier:innen im Vorfeld in Wahlverzeichnissen registrieren, anders als volljährige Bürger:innen, die automatisch ins Wählerverzeichnis eingetragen werden. Ein solches „Wahlrecht durch Eintragung“ fordert die SRzG seit langem in ihrem Positionspapier – allerdings fordern wir es für alle Minderjährigen, also auch für die Unter-16jährigen.
Nicht nur wegen der Senkung des Wahlalters richtete die öffentliche Debatte in den letzten Wochen besonderes Augenmerk auf die Wahlergebnisse der jungen Wähler:innen: Für Erstaunen und Empörung sorgte vor allem der Zuspruch der 16-24jährigen für die AfD, der mit 16% etwa im kohortenübergreifenden Durchschnitt lag. Ist die Jugend gar nicht grün und links, wie viele Jugendstudien und auch die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 nahegelegt hatten (bspw. d|part & FES 2022)? Das Wahlergebnis der Grünen bei der Jugend war mit 11% nicht wesentlich schlechter als ihr Gesamtergebnis, doch erzielte die Partei damit 23 Prozentpunkte weniger als bei den 18-24jährigen Wähler:innen der letzten EU-Wahl (tagesschau 2024). Eine genaue Wahlanalyse zeigt, dass die Stimmen der jungen Menschen 2024 nicht geschlossen zur AfD abwanderten (die von dieser Altersgruppe 2019 nur ca. 5% bekommen hatte). Denn auch CDU (17%; Zuwachs von 5%) und das BSW (+6%) konnten deutlich mehr Jungwähler:innen von sich überzeugen als noch 2019 (Tagesschau 2024).
Der augenfälligste Unterschied im Wahlverhalten der ‚Generationen‘ liegt jedoch nicht in der Wahl rechter oder rechtspopulistischer Parteien, sondern im großen Zuspruch der 16-24jährigen für Kleinparteien: Sie wurden von erstaunlichen 28% der Jungen gewählt; dagegen in der Kohorte der Über-60jährigen von nur 6%, wie die Grafik zeigt (Tagesschau 2024).
Ähnlich dem Zuspruch für populistische Parteien lässt sich wohl auch diese Präferenz als Symptom der wachsenden Unzufriedenheit mit der etablierten Parteienlandschaft lesen, eine Entwicklung, die schon im Frühjahr diesen Jahres von der Trendstudie ‚Jugend in Deutschland 2024‘ diagnostiziert wurde (Schnetzer et al., 2024) . Hier wurden 14-29 jährige nach ihren Perspektiven, Einstellungen und ihrer Lebenssituation gefragt – die Ergebnisse ließen vor allem im Vergleich zu den Befragungen der letzten Jahre deutlich erkennen, dass Zukunftsängste und Pessimismus in dieser Kohorte immer weiter verbreitet werden. Vielfältige Sorgen um Gesellschaft, Klima und die eigenen Zukunftschancen treffen auf die immer häufigere Überzeugung, dass Regierung und Demokratie mit der Lösung dieser Probleme überfordert seien: Ca. 28% der Befragten dieser Studie hält keine Partei für eine gute Wahl. Dass es dieser – sicher nicht generationenspezifische – Konnex aus Angst und Resignation ist, der das Wahlverhalten der Jugend wesentlich mitbestimmt, legt auch eine andere Studie aus dem Frühjahr nahe, die verschiedene Einstellungen und Eigenschaften bei 16-24jährigen in Abhängigkeit von ihren Parteipräferenzen erhoben hat (ZEIT 2024a): Hier zeigt sich, dass entsprechend pessimistische und/oder antidemokratische Haltungen vornehmlich unter jungen AfD-Anhänger:innen verbreitet sind – von denen es eben, wie beschrieben, immer mehr gibt.
Dass junge Wähler:innen in ihrer Resignation bei der EU-Wahl auch auf Klein- und Kleinstparteien ausgewichen sind, mag damit zusammenhängen, dass hier keine 5%-Hürde drohte – auch wenn andererseits schon bei der Bundestagswahl 2021 ein entsprechender Trend zu beobachten war (d|part & FES 2022). Jedenfalls ist es vielleicht keine ganz schlechte Nachricht: Schließlich heißt es, dass diese jungen Menschen offen für politische Ideen und prinzipiell auf der Suche nach Lösungen sind. In ähnlicher Weise hat ja auch die vieldiskutierte und -beklagte Tiktok-Karriere der AfD (ZEIT 2024b) eine potentiell hoffnungsvolle Rückseite: Sie zeigt, dass ein auf junges Publikum zugeschnittener Wahlkampf theoretisch möglich ist – ob die Informationsstruktur solcher Formate sich auch für demokratisch-komplexe Inhalte eignet, müssen die anderen Parteien nun herausfinden. In jedem Fall ist davor zu warnen, an den Wahlergebnissen der Europawahl eine überproportionale Populismusanfälligkeit der Jugend abzulesen und diese auf Alters- und Kohorteneffekte zurückzuführen: Es kann schließlich nicht Aufgabe der jungen Menschen sein, mit besonderer Vernunft den gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck auszugleichen. Stattdessen müssen die in den zitierten Studien aufscheinenden Ängste und das tendenziell resignative Politikverhältnis der jungen Menschen in Deutschland Anlass sein, sie mehr als bisher in die demokratische Entscheidungsfindung einzubinden.
Zitierte Literatur:
Euronews (2023): Wählen ab 16 in fünf Staaten bei nächster Europawahl. https://de.euronews.com/my-europe/2023/06/12/wahlen-ab-16-in-funf-staaten-bei-nachster-europawahl.
d|part & FES (2022): (NACH-)Wahlanalyse: Wie haben junge Deutsche 2021 bei der Bundestagswahl gewählt? https://library.fes.de/pdf-files/pbud/19475.pdf
Schnetzer, S., Hampel, K., & Hurrelmann, K. (2024): Jugend in Deutschland 2024: Verantwortung für die Zukunft? Ja, aber. Trendstudie. https://simon-schnetzer.com/trendstudie-jugend-in-deutschland-2024/
Tagesschau (2024): Junge Menschen wählen anders (10.06.2024). https://www.tagesschau.de/europawahl/wahl/junge-waehler-100.html
ZEIT (2024a): Was junge AfD-Wähler bewegt. https://www.zeit.de/campus/2024-06/junge-waehler-afd-werte-ansichten-wahlverhalten
ZEIT (2024b): Schminken, tanzen, hassen. https://www.zeit.de/2024/27/junge-waehler-politik-bildung-medien-europawahl