Hintergrund der notwendigen Überarbeitung der „Priorisierungs“-Grundsätze ist die aktuelle Lage im Hinblick auf den Covid-19-Impfstoff von Astra-Zeneca (Vaxzevria). Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen fordert in ihrer Pressemitteilung vom 24.04. deswegen eine Änderung der Impfreihenfolge, die dazu führt, dass das „Verschmähen“ von Vaxzevria nicht auf Kosten der jüngeren Jahrgänge geht.

Am 9. November 2020 hatten die Ständige Impfkommission beim Robert Koch-Institut (STIKO), der Deutsche Ethikrat und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina ein Positionspapier mit dem Titel „Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden?“ veröffentlicht. Die Fragestellung ist durch die Realität überholt. Heute stellt sich die Frage, wie der Zugang zu mehreren verfügbaren COVID-19-Impfstoffen, die unterschiedlich stark von der Bevölkerung nachgefragt werden, auf ethisch, rechtlich und praktisch sinnvolle Weise geregelt werden kann. Als neue Grundsätze schlägt die SRzG vor:

1) Die Impfung der gesamten Bevölkerung muss so schnell wie möglich erfolgen. Insbesondere darf kein Teil der Bevölkerung verzögert geimpft werden, weil ein anderer Teil der Bevölkerung ein Impfangebot ablehnt.

2) Die Risikogruppen – bei Covid19 also in erster Linie die Älteren – müssen zuerst ein Impfangebot erhalten.

Diese ethischen Grundsätze sind schnellstmöglich zu verrechtlichen (1).

Hintergrund der notwendigen Überarbeitung der „Priorisierungs“-Grundsätze ist die aktuelle Lage im Hinblick auf den Covid-19-Impfstoff von Astra-Zeneca (Vaxzevria). Bei diesem Impfstoff ist die Nachfrage bei den impfberechtigten Personen – das sind zurzeit v.a. die Übersechzigjährigen – geringer als das Angebot. Etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Vaxzevria-Impfangebote wird in abgelehnt, wobei es große regionale Unterschiede gibt (2). Bei Unter60jährigen, die mehrheitlich noch nicht impfberechtigt sind, ist die Nachfrage größer als das (für sie staatlich limitierte) Angebot. Auch ihnen kann das Vakzin auch „nach ärztlichem Ermessen und bei individueller Risikoakzeptanz“ (3) gegeben werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass in Deutschland Millionen von Impfdosen ungenutzt gelagert werden (4), während sich täglich viele impfwillige mittelalte und junge Menschen neu mit Corona infizieren, worauf auch die Bundesärztekammer hinweist (5). In Einzelfällen führten kurzfristige Absagen von Vaxzevria-Impfterminen sogar dazu, dass die Dosen vernichtet werden mussten. Es kostet Menschenleben innerhalb der Teilgruppe der Gesamtbevölkerung, die sich im AstraZeneca impfen lassen möchte, wenn dieser Impfstoff ungenutzt bleibt. Christian Drosten wies darauf hin, dass ein 60jähriger „im Juni einem Jüngeren die Impfung wegnimmt“, wenn der Ältere jetzt im April eine Astra-Dosis ausschlägt, um im Juni eine Biontech-Dosis zu erhalten (6).

Die SRzG begrüßt daher ausdrücklich, dass die Bundesländer Sachsen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern die Impfung mit dem Vakzin von AstraZeneca in den letzten Tagen für alle Altersgruppen zugänglich gemacht haben. Die SRzG fordert, die übrigen Bundesländer auf, die Freigabe ebenfalls zu vollziehen. Die SRzG fordert darüber hinaus, dass diese Freigabe nicht nur für die Impfungen in Arztpraxen gilt, sondern auch in Impfzentren.

Die Priorisierung muss schnellstmöglich so angepasst werden, dass überzählige AstraZeneca Dosen für alle Altersgruppen gleichermaßen zugänglich gemacht werden. Ein Staat, der impfwilligen Jüngeren AstraZeneca vorenthält, nur weil Ältere ein Impfangebot für diesen Impfstoff nicht angenommen haben, handelt unethisch. Pauschal gesagt ist es richtig, dass der Staat die Risikogruppen zuerst schützen muss. Die ethische Frage ist jedoch, wie man mit jemand aus den Risikogruppen umgeht, der einen ausgemachten Impftermin absagt, wenn er erfährt, dass er mit Vaxzevria geimpft werden soll. Gegenüber Menschen, die sich nicht mit Vaxzevria impfen lassen wollen (partielle Impfverweigerung), besteht keine Priorisierungspflicht mehr. Diese Personen sollten dann in die unterste Impfkategorie eingeordnet werden. Diese Änderung der Corona-Impfverordnung wiederum würde dazu führen, dass die Älteren Vaxzevria gar nicht mehr verschmähen würden, was die beiden Ziele (Schutz der Risikogruppen und schnellstmögliche Impfung aller Impfwilligen) simultan befördern würde. (7)

 

Quellen:

1) Zur bisherigen Rechtslage: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/corona-informationen-impfung/corona-impfverordnung-1829940

2) In Hessen wird in den Impfzentren laut Gesundheitsministerium jeder vierte Termin mit AstraZeneca abgesagt, in Niedersachsen jeder fünfte (FAZ vom 23.04.2021, Nr. 94. S.3). Eine zentrale Erfassung gibt es nicht, weder für die Impfzentren, noch für die Hausarztpraxen.

3) Beschluss der STIKO zur 4. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung, 1.4.2021, S.1. In England hingegen wird die Altersgrenze schon bei 30 Jahren angesetzt, so dass das AstraZeneca Vakzin für einen viel größeren Teil der Bevölkerung einer positiven Risiko-Nutzen Abwägung unterliegt. Die Europäische Zulassungsbehörde EMA sieht sogar für die gesamte Bevölkerung ohne Alterseinschränkungen diese positive Risiko-Nutzen Abwägung gegeben. Die SRzG schließt sich in dieser Frage der EMA-Auffassung an und verweist zur persönlichen Risikoabwägung auf eine hilfreiche Seite der Cambridge Universität: https://wintoncentre.maths.cam.ac.uk/news/communicating-potential-benefits-and-harms-astra-zeneca-covid-19-vaccine/. Siehe zur Risikoabwägung auch Prof. Paul Cichutek (Paul-Ehrlich-Institut): https://www.ndr.de/nachrichten/info/5-Impfstoff-Experte-Prof-Klaus-Cichutek-ueber-Astra-Zeneca,audio867602.html

4) https://www.zi.de/presse/grafik-des-monats

5) Vgl. auch ähnliche Forderungen von Bundesärztekammerpräsident Reinhardt am 22.04.2021 (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bundesaerztekammer-fordert-nutzung-aller-impfstoff-bestaende-17307689.html)

6) Christian Drosten in NDR Info: Corona Virus Update 13.4.2021, Podcast. Der Satz wurde zurecht sehr oft in der Presse zitiert, vgl. https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/60-impfung-astrazeneca-biontech-unsolidarisch-1.5266638

7) Ähnlich wie die SRzG denkt Janosch Dahmen, Gesundheitspolitiker der Grünen. Er sagte: „Wenn wir AstraZeneca jetzt nicht für ältere Menschen prioritär einsetzen, für die der Impfstoff besonders wirksam und risikoarm ist, riskieren wir in der Konsequenz viele Menschenleben, weil Jüngere länger auf ihren Impftermin warten müssen.“ (FAZ vom 23.04.2021, Nr. 94. S.3).