Beitrag von Johanna Beckonert und Grace Clover, Praktikantinnen bei der SRzG.
Demonstrationen, Petitionen und anderen Protestaktionen können auf Generationengerechtigkeit aufmerksam machen. Aber es gibt auch noch andere Wege!
Zentral für Generationengerechtigkeit ist langfristiges Denken, was die Kunst verdeutlichen kann. Auf der einen Seite gibt es Kunstprojekte, die mehrere Jahrtausende alt sind, wie beispielsweise die prähistorischen Handgemälde (Cueva de Las Manos) in Argentinien (zwischen 9.500 und 13.500 Jahre alt). Auf der anderen Seite gibt es auf der ganzen Welt neue Projekte, die die Zukunft und auch den Verlauf der Zeit thematisieren wollen. Unter der Bezeichnung „Long Term Art Projects“ hat Michael Münker, ein Mitglied der Milliongeneration Foundation und der Stiftung Letters of Utrecht, die Vernetzung dieser laufenden Kunstprojekte angestoßen. Seit Juni 2022 haben sich Vertreter dieser langfristig angelegten Projekte getroffen und ausgetauscht. Sie verfolgen das gemeinsame Ziel eine Quelle der Inspiration und Kraft für zukünftige Generationen zu werden, die sich mit der Bedrohung der Existenz des menschlichen Lebens befassen. Involviert sind Kunstprojekte wie die „Letters of Utrecht“ und die „Wemdinger Zeitpyramide“. Diese Kunstprojekte werfen dabei aktuelle Fragen auf: Muss langfristige Kunst etwas von unserer eigenen Zeit bewahren, wie eine Zeitkapsel? Soll langfristige Kunst eine Warnung sein, wie die uralte Tsunamisteintafel in Japan? Und schließlich, wie kann Kunst auf Generationengerechtigkeit aufmerksam machen?
„Long Term Art Projects“ stärken das Bewusstsein für langfristiges Denken und betonen unsere Verantwortung für zukünftige Generationen, indem sie auf einen langen Zeitraum ausgelegt sind. Jedes Kunstwerk sensibilisiert dafür, dass Einsatz gefragt ist, um Zukunft zu ermöglichen. Durch ihren Ansatz kann die Kunst inspirieren und Menschen auf verschiedenen Ebenen erreichen. Sie geben Hoffnung und positive Visionen in einer unsicheren Zeit der Klimakrise, Konflikte und anderer existentieller Risiken. Denn Kunst kann Menschen in allen Teilen der Gesellschaft erreichen. Daher ist etwa eine Ausstellung der verschiedenen Kunstprojekte geplant. Die Zusammenarbeit bezieht sich dabei auf den UN-Zukunftsgipfel 2023 und soll Entscheidungsträger:innen an ihre Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen erinnern.
Ein beeindruckendes Beispiel für langfristige Kunst im 21. Jahrhundert ist die „Future Library“ in Oslo. Das Kunstprojekt der schottischen Künstlerin Katie Paterson, gestartet 2014, ist inzwischen relativ bekannt. Über den Zeitraum von 100 Jahren, also bis zum Jahr 2114, entsteht dabei eine Sammlung von 100 ausgewählten Texten oder Textauszügen in Buchform. Jedes Jahr wird ein Manuskript in die Future Library eingeführt und in der Stadtbibliothek von Oslo, der Deichmanske Bibliothek, aufbewahrt. Das Papier für die Bücher stammt zudem aus einem von Katie Paterson angelegten Wald in der Nordmarka nördlich von Oslo. Die 1000 Bäume sollen bis zur Veröffentlichung der Manuskripte wachsen und das Holz soll Papier für die ca. 3000 Drucke der gesamten Bibliothek liefern. Die Stadt Oslo hat das Land auf dem diese Bäume wachsen unter Schutz gestellt – bis 2114 darf es nicht verkauft werden.
Katie Patersons Kunstprojekt zeichnet sich dadurch aus, dass die Manuskripte vor 2114 von niemandem gelesen werden dürfen. Selbst die Autoren der Manuskripte behalten keine Kopie. Nur die Titel sind bekannt! Inhaltlich sollen sich die Manuskripte auf die Themen „Fantasie“ und „Zeit“ beziehen. In der Literaturgattung, beim Genre, der Länge und der Sprache ihrer Werke sind die Autor:innen in ihrer Wahl frei.
Der Fortbestand des Projektes sichert dabei das Gremium Future Library Trust, dem auch Katie Paterson angehört. Dadurch soll die Future Library über die Lebenszeit der Künstlerin, der aktuellen Kuratorin Anne Beate Hovind und der heutigen Generationen hinaus weitergeführt werden. Außerdem wählt das Gremium Autor:innen aus und lädt sie dazu ein, einen Text zu verfassen. Jedes Jahr im Frühling findet in der Nordmarka dann die Übergabe eines neuen Werkes statt. Dieses wird ein Teil der Future Library und wird hinter Glas in einem Raum – „The Silent Room“ – in der Stadtbibliothek von Oslo ausgestellt. Durch einen Vertrag wird dabei der Erhalt dieser Bibliotheksräume über 100 Jahre von der Stadt Oslo zugesichert.
Auf diese Weise entsteht nun eine Sammlung verschiedener Manuskripte von unterschiedlichen Autor:innen aus der ganzen Welt. Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood war etwa als erste Verfasserin eines Manuskripts beteiligt. Ihr Text „Scribble Moon“ ist somit der erste, der seit 2015 Teil der Future Library geworden ist. Weitere Schriftsteller:innen sind David Mitchell, Syón, Elif Shafak, Han Kang, Karl Ove Knausgård, Ocean Vuong, und Tsitsi Dangarembga. Als neunte Schriftsteller:in wurde nun Judith Schalansky eingeladen. Die neuen Manuskripte werden am 21. Mai 2023 an den ‚Silent Room‘ übergeben, wo sie bis Jahr 2114 aufbewahrt werden.
Langfristige Kunst ist für Katie Patersen ein besonderes Anliegen. Sie versucht durch die „Future Library“ nicht nur ein Projekt zu erstellen, welches so wenig wie möglich die Zukunft belastet, indem sie nur nachhaltige nachwachsende Rohstoffe benutzt. Stattdessen thematisiert sie durch ihr Projekt auch die Zeit an sich. Denn die „Future Library“ kann ausschließlich von zukünftigen Generationen konsumiert werden. Es dient als Erinnerung an das Vergehen der Zeit, und setzt Vertrauen in die Menschen, die nach uns kommen. Wie der gewählte Autor für 2015, David Mitchell und Lisa Le Feuvre es formulieren, geht es bei der “Future Library” auch um Vertrauen: darauf, dass es in ferner Zukunft noch Bücher, Leser:innen, und die norwegischen Bäume gibt und dass zukünftige Generationen unsere Bemühungen schützen und weiter entwickeln.