Gastbeitrag von Ben Jagasia. Ich bin 17 – und bereit, ein soziales Pflichtjahr zu leisten. Aber nur, wenn auch Rentner dienen müssen! Eine Erwiderung auf Bernhard Schlink. Dieser Kommentar wurde in der Wochenzeitung DIE ZEIT in der Ausgabe 07/2023 im Streit-Ressort erstveröffentlicht. Link zur digitalen Version bei ZEIT-ONLINE.

Neuerdings wird in Deutschland verstärkt über ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen diskutiert. Als 17-Jähriger verfolge ich diese Debatte gebannt, schon weil eine solche Dienstpflicht, wenn sie denn käme, erheblich in mein Leben eingreifen würde. Nun hat vorige Woche auch der Schriftsteller Bernhard Schlink in der ZEIT für ein »Gesellschaftsjahr« plädiert – zu dem der Staat vor allem uns Jüngere allerdings nicht zwingen, sondern durch ordentliche Bezahlung und Ausstattung verlocken solle. Ich verstehe das als eine Art Kompromissangebot, nachdem zuvor die CDU auf einem Parteitag im vergangenen Herbst beschlossen hatte, ein Dienstjahr für junge Menschen verpflichtend einführen zu wollen.
Mich überzeugt keiner der beiden Vorschläge. Ich lehne ein verbindliches »Gesellschaftsjahr« für uns Jüngere zwar gar nicht ab. Im Gegenteil: Ich denke, eine Dienstzeit in sozialen Einrichtungen, in der Flüchtlingshilfe, für den Umwelt-, Klima- oder Katastrophenschutz oder bei der Bundeswehr könnte sehr sinnvoll sein. Das gilt aber nur, wenn wir eine Lösung finden, die nicht junge Menschen einseitig in die Pflicht nimmt. Es muss schon gerecht zugehen – und das heißt auch: generationengerecht.
Deshalb möchte ich einen Gegenvorschlag in die Debatte werfen. Ich bin dafür, dass man für jeden Bürger jedes Geschlechts zwei soziale Pflichtjahre festschreibt – eines vor Beginn des Berufslebens und eines nach dessen Ende. Junge und Alte müssten gemeinsam ran. Gäbe es einen besseren Beweis dafür, dass der Staat wirklich am sozialen Zusammenhalt interessiert ist?
Genau um diesen Zusammenhalt, da hat Bernhard Schlink völlig recht, müssen wir uns dringend kümmern in einer Zeit, in der Krisen und Konflikte zur neuen Normalität geworden sind. Krieg in Europa, Klimawandel und Pflegenotstand – das sind ja nur ein paar der Herausforderungen, die das Wohlergehen von uns allen bedrohen. Dabei könnte eine soziale Dienstpflicht helfen: Sie könnte den Bezug zur Demokratie und zur Bundeswehr stärken, überhaupt mehr gesellschaftliches Engagement stiften.
So gesehen hat mich der CDU-Beschluss für eine Dienstpflicht schon damals, vor ein paar Monaten, geärgert. Insbesondere das, was Parteichef Friedrich Merz zu dem Thema in einem Interview sagte: »Ich bin überrascht, wie hoch die Zustimmung gerade in der jungen Generation zu einem solchen verpflichtenden Jahr in Deutschland ist.« Aha. Woher er das weiß? Durch das Feedback der Schülerklassen, die ihn besuchen, sagte Merz. Zwar räumte er ein, dass die Corona-Lockdown-Phase »eine Zeit von Entbehrung und Einsamkeit« für viele junge Menschen gewesen sei. Dies könne »aber nicht der Maßstab für eine solche Grundsatzentscheidung sein«.
Ich frage mich, wie Merz darauf kommt, die Zustimmung seiner Besuchergruppen als Stimmung in der jungen Generation zu werten. Aber vor allem wundere ich mich, dass die Entbehrungen junger Menschen in der Corona-Pandemie anscheinend nicht relevant genug sind, um sie in dieser »Grundsatzentscheidung« berücksichtigen zu wollen. Das zeigt mir, dass wichtige Vertreter der Politik die junge Generation immer noch bevormunden. Sie halten deren Interessen für weniger relevant. Vielleicht schielen sie ja mehr auf den großen und somit mächtigen Wählerpool der älteren Generation.
Der Idee einer gerechten Dienstpflicht hat Friedrich Merz enorm geschadet, als er die Lage der Kinder und Jugendlichen nach drei Jahren Pandemie leichtfertig abtat. Die häusliche Isolation und besonders die Schulschließungen – eine Ungeheuerlichkeit aus heutiger Sicht! – haben beträchtlichen Schaden angerichtet. Meiner Generation fehlen drei Jugendjahre. Jahre ohne Partys und Gemeinschaft. Vom Unterrichtsausfall und von den Lernrückständen sprechen wir da noch gar nicht. Trotz dieser Startnachteile wird vor allem diese Generation gewaltige Schuldenberge abtragen, den Klimawandel bekämpfen und die riesigen Rentenansprüche einer alternden Gesellschaft finanzieren müssen.
Und hier wären wir bei den Ruheständlern. Mal ehrlich: Die meisten von ihnen führen ein alles andere als schlechtes Leben. Renteneintritt im Schnitt mit 64 Jahren und ständig steigende Lebenserwartung – da bleibt viel Zeit, die viele nach dem Ende des Arbeitslebens mit schier endlosem Urlaub ausfüllen. Laut der Deutschen Rentenversicherung beziehen knapp 250.000 Deutsche ihre Rente im Ausland. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 waren es noch 100.000 weniger. Und ich war überrascht, wie viele Suchergebnisse ich beim Googeln nach »Rentner-Kreuzfahrten« fand. Offenbar haben sich zahlreiche Touristik-Unternehmen auf Senioren spezialisiert. Alles schön und gut, aber das Leben ist nun mal keine ständige Kreuzfahrt, auch nicht das Leben nach der Arbeit.
Besonders die »Babyboomer«, die jetzt oder bald in Rente gehen, können sich wirklich nicht beklagen. Diese Generation hat vom Wirtschaftswunder profitiert, vom jahrzehntelangen Frieden in Europa, vom Ausbau des Bildungssystems – und hat dabei die ökologischen Kosten ihres Handelns häufig missachtet. Darum wäre es angebracht, wenn möglichst viele Rentner, die bisher meist privilegiert gelebt haben, der jungen Generation etwas zurückgäben.
Ist es unverschämt von mir, einem 17-Jährigen, so etwas zu fordern? Das habe ich kürzlich mal meine vier Großeltern gefragt. Ich wollte wissen, welche Argumente sie gegen meinen Vorschlag vorbringen würden. Der erste Einwand war: Ihre Generation habe doch bereits »gedient«, sei es bei der Bundeswehr oder im Zivildienst. Aber ich finde: Das zieht nicht. Die jungen Menschen von heute würden ja ebenfalls zweimal einen Pflichtdienst absolvieren – nach der Schule und nach dem Arbeitsleben.
Ein Argument, warum speziell den jungen Menschen eine Dienstpflicht guttäte, lautete: Die seien nach der Schule doch erst einmal frei. Doch ist der Mensch beim Renteneintritt nicht in vielerlei Hinsicht sogar freier als nach dem Schulabschluss? Etliche sind nach dem Erwerbsleben finanziell gut abgesichert. Und wieso soll nicht auch jemand mit Mitte 60 bereit sein, aus seinen Routinen auszubrechen? Indem er oder sie zum Beispiel in der Schulmensa aushilft, den örtlichen Wald renaturiert, Menschen mit Migrationshintergrund bei der Abwicklung der Steuererklärung unterstützt oder in der Tafel die Lebensmittel ausgibt.
Jens Spahn war jüngst in den Schlagzeilen mit seiner pragmatischen Forderung, pro Jahr höherer Lebenserwartung einen Monat mehr Arbeitszeit anzuhängen. So einfach wird es nicht werden, aber die glücklicherweise steigende Lebenserwartung ist natürlich ein weiteres Argument, warum es Rentnern zuzumuten ist, sich stärker für die Gemeinschaft einzubringen. Warum zum Beispiel sollten sie nicht das Pflegepersonal in Krankenhäusern bei leichten Aufgaben wie dem Essen-Austeilen unterstützen?
Mit ihrem Dienst würden angehende Rentnerinnen und Rentner nicht nur helfen, ein Sozial- und Pflegesystem zu stützen, auf das viele von ihnen mit fortschreitendem Alter zunehmend selbst angewiesen sein werden. Soziales Engagement stiftet auch Lebenssinn. Anderen zu helfen erfüllt einen Menschen ungemein. Nebenbei wirkt es dem wachsenden Problem der Vereinsamung entgegen. Der Kontakt zu einem anderen Rentnerpaar, das man während eines sozialen Pflichtjahres kennenlernt, könnte in düsteren Zeiten Gold wert sein.
Letztlich hätte ein soziales Pflichtjahr, wie ich es vorschlage, das Potenzial, Alt und Jung in der Gesellschaft wieder zusammenzubringen. Nötig wäre das! Denn in den Jahren von Corona hat sich eine Kluft aufgetan zwischen den in ihre Wohnungen zurückgezogenen »Risikopatienten« über 60 und der »Jugend, die nur Party machen wollte«. Da hat eine Entfremdung stattgefunden. Wäre es nicht großartig, wenn zum Beispiel er, 19, und sie, 64, eine Zeit lang zusammen Essen für pflegebedürftige Senioren ausfahren oder gemeinsam mit Kindern in der Grundschule das Lesen üben?
Ich wäre bereit, mein soziales Dienstjahr abzuleisten. Aber bitte nur unter fairen Voraussetzungen, sprich: Wenn die Politik bei der Einführung eines »Gesellschaftsjahres« wirklich an der Stärkung des sozialen Zusammenhaltes interessiert ist, dann geht das nur mit Jung und Alt zusammen.