von Thomas Betten, SRzG-Vorstandsmitglied

Ein Plan für das Unplanbare

Die Geschichte der Seuchen ist für die Menschheit eine bewegte und bedrückende. Nicht umsonst werden sie auch „Geißeln der Menschheit“ genannt, denn oft fordern sie viele Todesopfer – oder besser gesagt: haben. Denn Seuchen sind eine Geißel, die wir – zumindest in den Industrienationen – schon sehr lange nicht mehr geballt und direkt zu spüren bekommen haben, vor allem nicht als Pandemie.

Die HIV/AIDS-Pandemie schreitet sehr langsam voran und Betroffene sterben nicht an dem Virus direkt, sondern viel mehr mittelbar durch die damit einhergehende Immunschwäche. Die letzte Seuche mit gravierenden globalen Auswirkung war die so genannte asiatische Grippe, Ende der 50er Jahre. Aber die letzte Seuche die uns wirklich im Kopf rumgeistert ist die spanische Grippe mit bis zu 50 Million Toten auf der ganzen Welt. Das ist 100 Jahre her.

Und das ist eine verdammt lange Zeit. Lang genug auf jeden Fall, damit niemand persönliche Berührungspunkte mehr hat und Seuchen, zumindest in den meisten Ländern, einen Großteil ihres brutalen Rufs verloren haben. Dennoch war uns, vielleicht nicht jeder Einzelperson, aber uns als Menschheit klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist bis uns die nächste Pandemie droht. Die Weltgesundheitsorganisation thematisiert dies unter anderem in ihrem Annual Report on Global Preparedness for Health Emergencies. Um es anders auszudrücken; eigentlich wurden wir nicht überrascht und wir hatten zumindest einen Plan, wie wir in einer Pandemie reagieren wollen.

Eigentlich. Denn ich, und viele andere auch, haben das Gefühl, auf den Ausbruch von CoViD-19 trotzdem nicht vorbereitet gewesen zu sein. Das gilt für jede einzelne Ebene, aber zieht sich auch durch sämtliche politische Ebenen.

Aber warum? Die Antwort ist natürlich nicht einfach und wir haben mit Sicherheit auch nicht alle Hausaufgaben in der Vorbereitungsphase gemacht, aber für mich liegt ein Aspekt auf der Hand; wir haben einen Plan für Pandemien, aber niemand weiß genau wie man diesen eigentlich durchführt. Keiner kennt die Konsequenzen. Niemand hat das schon mal erlebt. Weder als Einzelperson, und noch viel weniger als Gesellschaft.

Wir agieren gerne nach einem Schema, das wir oder jemand, den wir kennen, schon einmal ausprobiert hat. Selbst die disruptivsten Ideen reifen und entwickeln wir in einer geschützten und uns bekannten Umgebung, die Adaption folgt graduell. Aber jetzt ist auf einmal alles neu, alles nicht nur ein bisschen anders. Argumente wie, „das ist historisch gewachsen“ und „das machen wir schon immer so“ zählen plötzlich nicht mehr. Wir haben keine Erfahrungswerte. Normalerweise geht diese Sucht nach Erfahrungen oft zu Lasten der Teilhabe junger Menschen. Ideen werden mit dem Scheinargument der Erfahrung bzw. Nicht-Erfahrung abgeblockt.

 

Die Stunde der Expert*innen

Doch im Moment stehen wir alle vor der gleichen Herausforderung. Wenn man es abstrakt und entkoppelt von allen möglichen Folgen betrachtet: ein spannendes Experiment. Und in diesem Experiment ändert sich gerade, wie wir agieren und unsere Entscheidungen treffen.

Wir fangen an mehr auf Expert*innen mit ihrer wissenschaftlichen Expertise zu hören. Der Charité Professor Christian Drosten wird zu unserem größten „Sprachrohr der Wissenschaft“ in die Gesellschaft hinein. Aber auch Regierungen lassen sich intensiver und direkter von Expert*innen beraten (bzw. kommunizieren dies zumindest deutlicher). In Taiwan ist man sogar noch ein bisschen weiter. Nach den SARS-Erfahrungen in 2003 wurde das Gesundheitssystem von einem Experten für Infektionskrankheiten umstrukturiert. Basierend auf den Vorschlägen der Expert*innen müssen wir als Gesellschaft nun überlegen was für uns in Frage kommt, um dann auszuprobieren, was funktioniert und was nicht. Dabei dürfen – nein, müssen – wir die Maßnahmen natürlich diskutieren und hinterfragen. Das ist anstrengend und herausfordernd. Aber wenn wir diesen Aspekt, der fast schon wissenschaftlichen Arbeitsweise (Wir stellen eine Hypothese auf, überprüfen diese als Gesellschaft und überlegen dann welche Schlüsse wir daraus ziehen) für unser Leben nach der Krise übernehmen, kann das eine große Chance sein. Auch für mehr Generationengerechtigkeit.

 

Zeit für Utopien

Ein Text, der mich in letzter Zeit sehr beeindruckt hat und meine Denkweise über einige Dinge verändert hat, ist „Vom Guten Leben Reden“  von Julia Fritzsche über die Macht positiver Utopien.

Wenn ich mir also eine Sache für unsere Post-Coronawelt wünschen darf, ist es, dass wir uns als Gesellschaft Utopien ausdenken (unter Einbezug der oben erwähnten Expert*innen) und auch den Mut haben, diese gemeinsam auszuprobieren:

Wir werden Nichts behalten, nur weil es immer schon da war. Wenn etwas historisch gewachsen ist, aber keinen Sinn mehr macht, denken wir uns etwas Neues aus. Dabei wissen wir, dass das Argument der positiven Erfahrungen zwar valide, aber nicht das einzige Argument sein kann. Vielmehr verlassen wir uns auch auf die anderen Säulen der Weisheit neben Erfahrung; Empathie und Selbstvertrauen (siehe Berliner Weisheitsmodell). Die Empathie brauchen wir, weil wir besser darin werden müssen, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Dazu zählen marginalisierte Gruppen unserer heutigen Gesellschaft, aber auch zukünftige Generationen, die noch keine eigene Stimme haben. Und das Selbstvertrauen brauchen wir, weil wir uns bei der Erschaffung unserer Utopien mehr vertrauen müssen und weil wir den Mut brauchen, diese auszuprobieren.

Wenn wir es also schaffen, unseren Fokus auf Erfahrungen als oft wichtigstes Argument aufzugeben, könnte unsere Zukunft besser und (generationen-)gerechter werden.