von Yannick Haan, SRzG-Botschafter
Diese Krise ist unsere erste Krise. Zum ersten Mal spüre ich wie Nachrichtengeschen mein eigenes Leben fundamental verändert. Während ich noch vor einigen Wochen angstfrei mit tausenden von Menschen auf einer Demonstration durch Berlin gelaufen bin, traue ich mich heute kaum mehr aus dem Haus. Ich frage mich wirklich, was die aktuelle Situation mit unserer Gesellschaft macht. Das Perfide ist, dass mittlerweile jede Person immer eine potentielle Gefahr bedeutet. Wie bekommen wir das nach der Krise wieder aus dem eigenen Gedächtnis heraus?
Ich kann mich noch an den 11. September in New York erinnern. Wie ich vom Sporttraining nach Hause kam und die Türme bereits brannten. Ich kann mich erinnern, wie stolz ich war als ich zum ersten Mal die Schule schwänzte, um gegen den Irakkrieg zu demonstrieren. Aber weder der Krieg noch die einfallenden Türme haben mein Leben unmittelbar verändert. Es kam die Finanzkrise. So dramatisch die auch sicherlich war – ich hatte keine Beziehung zu ihr. Mein Leben und das vom Finanzkapitalmarkt sind in Gänze entkoppelt. Oft heißt es, wir Millenials wären mit Krisen aufgewachsen. Das stimmt nicht. Wir sind in einer beispiellosen Behaglichkeit aufgewachsen. Das hier ist unsere erste Krise.
Es ist aber eine die uns gleich ins Mark trifft. Das Reisen, das sich frei bewegen ist für uns ein identitätsstiftendes Merkmal. Wir haben jetzt nicht nur den Pass für fremde Länder verloren, sondern dürfen gleich unsere Wohnung quasi nicht mehr verlassen. Das stellt gerade uns vor eine große Herausforderung. Ich glaube wie wir uns verhalten, was wir aus der Krise lernen, wird entscheidend für die Zukunft dieser Gesellschaft sein. Derzeit werden immer strengere gesellschaftliche Maßnahmen eingeführt. Maßnahmen, die noch vor einigen Wochen undenkbar waren, werden heute von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt. Doch während es unfassbar viel Solidarität und Unterstützung gibt, sieht man auch einige denen scheinbar alles egal ist, die weiter das Leben von vorher leben. Doch es kommt jetzt auf unsere Solidarität an. Beim Klimaschutz fordern wir doch auch Solidarität von den Älteren, die oftmals weniger betroffen sind vom Klimawandel. Dann sind wir hier auch in der Schuld unseren Teil zu liefern. Es geht jetzt nicht mehr um Hedonismus. Aus der Generation der Reizüberflutung müssen wir die reizlose Generation werden. Und wir können das. In unserer Hand liegt jetzt, ob wir das Konzept des mündigen Bürgers weiterverfolgen oder ins Autoritäre abdriften, weil einige immer weiter machen als wäre nichts passiert. An uns liegt es, ob wir den südkoreanischen oder den chinesischen Weg gehen. Die Bundeskanzlerin sagte den wunderschönen Satz „In diesen Zeiten ist nur Abstand ein Zeichen für Fürsorge“. Diesen Satz sollten wir uns alle tätowieren lassen. Er ist das Sinnbild des demokratischen Weges, des aufgeklärten Weges. Und diesen Weg sollten wir unterstützen.
Wir stehen aber noch vor einer zweiten Aufgabe. Diese Krise hat gezeigt, dass unsere Hyperindividualisierung nicht zukunftsfähig ist. Mein Job, so wichtig ich ihn finde, ist sicherlich weit weg von der Systemrelevanz. Während ich gemütlich im Homeoffice sitze, wissen andere mit systemrelevanten Jobs nicht mehr wie sie ihre Miete zahlen sollen, wie sie alle Kranken pflegen sollen. Dabei kann mir niemand rational erklären warum ich mehr als eine Krankenschwester verdiene. Vielleicht sollte es nach der Krise nicht mehr darum gehen, wer am meisten Länder bereist hat oder am meisten Instagram-Follower hat, sondern wer etwas für die Gesellschaft leistet. Die Krise zeigt uns, dass wir mit einer Hyperindividualisierung nicht mehr weiterkommen, sondern wieder kollektive Lösungen brauchen. Ich bin aktuell einfach nur dankbar in einem Land zu leben mit einer solidarischen Krankenversicherung, mit einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und einem Parteiensystem, das in der Krise zusammenarbeitet. Vielleicht sind die kollektiven Antworten last but not least doch gar nicht so schlecht. Ich will im Tausch aktuell nicht das amerikanische Krankensystem in Kombination mit der Berichterstattung von Netflix haben. Diese neuen kollektiven Antworten müssen doch auch nicht nach 20. Jahrhundert riechen, sondern dürfen gerne den Spirit des 21. Jahrhunderts haben. Lasst uns doch mal beispielsweise darüber nachdenken wie diese aufkommende Wirtschaftskrise mit Grundeinkommen lösbar ist.
Die letzten Tage ging es mir ehrlich gesagt nicht gut. Das mag egozentrisch klingen, wenn man sieht, was alles um einen rum passiert. Aber wenn man von 0 auf 100 gebremst wird dann macht das etwas mit einem. Ich vermisse das Zwangslose, das sich im öffentlichen Raum treiben lassen. Ich vermisse Menschen. Doch ich habe diese Krise mittlerweile als ein Sabbatical für die Gesellschaft angenommen. Ein Sabbatical bietet immer auch die Möglichkeit nachzudenken, das eigene Handeln zu reflektieren. Diese Chance sollten gerade wir jetzt nutzen. Vielleicht kommt unsere erste Krise, unser Sabbatical, ja noch rechtzeitig. Es gibt wohl keinen abgedroscheneren Spruch als jeder Satz, der die Worte Krise und Chance beinhaltet. Ich möchte wirklich nicht klingen wie ein ermüdeter Motivationscoach, der nur noch gelangweilt seine Standardsätze von sich gibt, aber vielleicht ist unsere erste Krise auch unsere größte Chance. Vielleicht ist das Abgedroschene das was wir jetzt brauchen.