Von Carl-Georg Christoph Luft, SRzG-Botschafter
In varietate concordia – in Vielfalt geeint – lautet die Losung der Europäischen Union, die seit jeher ihre Politiken und Taktiken leitet. In Krisentagen wie diesen, an denen die Kontroversen zwischen Budapest und Brüssel sowie London und Luxemburg kulminieren, mutet die Einmütigkeit der Europäerinnen und Europäer utopisch an. Paradox mag indes erscheinen, dass die Stärkung eines Pluralismus wahrenden Supranationalismus gerade gegenwärtig geboten ist. Bezogen auf den europäischen Binnenmarkt impliziert das Postulat nach Vielfalt in Ganzheit, einheitliche Schnittstellen und Stellschrauben zwischen siebenundzwanzig Systemen einzurichten, um Freiräume für den Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen zu eröffnen. Letztgenannte komplettiert die vierte Grundfreiheit des Kapitalverkehrs, die aufgrund der unvollendeten Kapitalmarktunion bis dato (noch) nicht vollumfassend verwirklicht ist. Die Etablierung eines integrierten und funktionierenden paneuropäischen Kapitalmarkts soll Anlegern Investitionsoptionen und Unternehmern Finanzierungsquellen erschließen, die dringend nötig sind, um Europas Ökonomie und Gesellschaft zukunfts- wie widerstandfähig aufzustellen. Ein Binnenmarkt für Kapital kann die digitale Transformation, eine inklusivere Wirtschaft, die globale Wettbewerbsfähigkeit, die offene strategische Autonomie sowie die ökologische Wende Europas erheblich fördern. Denn eine Vielzahl an Vorhaben kann ohne zusätzliche Mittel von professionellen und nicht-professionellen Investoren schlicht nicht oder nicht in der erforderlichen Effizienz realisiert werden (Véron und Wolff 2016). Allein die energiebezogenen Investitionen müssen um 350 Milliarden Euro jährlich aufgestockt werden, um die bis zum Ende der Dekade anvisierte Reduktion der Treibhausgasemissionen um 55,0 Prozent tatsächlich erreichen zu können (Europäische Kommission 2020a). Angesichts der hinzukommenden viralen Herausforderungen, denen sich die Union nun stellen muss, ist das Momentum gekommen, diese große Linie der europäischen Vision zum Wohle aller Generationen sukzessive und entschlossen weiter zu zeichnen.
Der gemeinsame Kapitalmarkt soll laut Europäischer Kommission (2020b) „[…] allen Europäerinnen und Europäern, ganz gleich wo sie leben und arbeiten, einen Mehrwert bringen“. Ihn zu realisieren erfordere Zeit und Beharrlichkeit, da tief verwurzelte Hürden im Aufsichts-, Steuer-, und Insolvenzrecht zu nehmen seien. Die kritische Kohäsionskraft stellt in diesem Kontext eine einheitliche europäische Kapitalmarktaufsicht dar, die befugt ist, Regelwerke zu erlassen, Sekundärmarktinfrastrukturen zu überwachen und Recht konsistent und konsequent durchzusetzen (Krahnen und Pelizzon 2020). Durch solch eine supranationale Stelle, die Finanztransaktionen einstweilen je nach Volumina oder Ansteckungsrisiken begutachten könnte (Di Noia 2020), ließe sich nicht nur eine kontinentale Kapitalmarktkultur etablieren, sondern auch Anlegerschutz europaweit erwirken, was in Anbetracht des neuen paneuropäischen privaten Pensionsprodukts besonders bedeutsam ist. Letztgenanntes veranschaulicht, dass die voranschreitende Verzahnung der Kapitalmärkte der Portabilität, Kompatibilität, Rentabilität und Komparabilität der Alterssicherung von Millionen europaweit tätigen Versicherten zuträglich sein kann. Um langfristige Investitionen von Versicherern in Firmen zu mobilisieren, ist ferner eine Überprüfung und Anpassung des Aufsichts- und Regulierungssystems Solvency II essentiell, die bis spätestens 2022 abgeschlossen sein muss. Gegenwärtig gilt es hingegen, den im September diesen Jahres vorgestellten Aktionsplan zum Ausbau der europäischen Kapitalmarktunion – trotz oder gerade wegen der zahlreichen Krisenherde – unentwegt und zügig weiter zu verfolgen. Dieser trägt dazu bei, die vielversprechenden Potentiale eines kontinentalen Binnenmarkts für Kapital zu heben, auf die Europa nicht verzichten darf und nicht verzichten kann. Unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wurden jüngst Prioritäten hinsichtlich der im Aktionsplan skizzierten Maßnahmen dargelegt, um der Europäischen Kommission Leitlinien für künftige Rechtsvorschriften und Initiativen mitzugeben. Für die Chancen der zukünftigen Generationen wird zu hoffen sein, dass diese Richtschnüre politische Beachtung finden und dass sich die Bestrebungen zur Schaffung eines echten europäischen Kapitalmarkts, die bereits mit den Römischen Verträgen im Jahre 1957 begannen, schlussendlich als fruchtbar erweisen.
Quellenverweise:
Di Noia, Carmine (2020): Europa braucht die Kapitalmarktunion für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Handelsblatt, November 29 https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/gastkommentar-carmine-di-noia-europa-braucht-die-kapitalmarktunion-fuer-den-wirtschaftlichen-wiederaufbau/26669620.html?ticket=ST-7611366-KvlYjYG9ZM7E3CrGtxeI-ap3.
Europäische Kommission (2020a): Mehr Ehrgeiz für das Klimaziel Europas bis 2030: In eine klimaneutrale Zukunft zum Wohl der Menschen investieren. Brüssel. https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2020/DE/COM-2020-562-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF.
Europäische Kommission (2020b): Eine Kapitalmarktunion für die Menschen und Unternehmen – neuer Aktionsplan. https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:61042990-fe46-11ea-b44f-01aa75ed71a1.0003.02/DOC_1&format=PDF.
Krahnen, Jan Pieter, und Loriana Pelizzon (2020): Priorities for the CMU agenda. SAFE Policy Letter No. 85. https://safe-frankfurt.de/fileadmin/user_upload/editor_common/Policy_Center/SAFE_Policy_Letter_85.pdf.
Véron, Nicolas, und Guntram B. Wolff (2016): Capital Markets Union: A Vision for the Long Term. Journal of Financial Regulation 130–153.