Von Louis van Boxel-Woolf, Cambridge University, SRzG-Praktikant
Wir erleben komische Zeiten. Offenbar fährt die Weltwirtschaft Verluste ein, die weit über die Verluste sowohl nach der Weltfinanzkrise 2008 als auch der Weltwirtschaftskrise 1929 hinausgehen. Eine Rekordzahl von Amerikanern*innen meldete sich in einer Woche arbeitslos,[1] die britische Regierung und Notenbank rechnen mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 35% im ersten Quartal des Jahres,[2] das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen warnt davor, dass im nächsten Jahr doppelt so viele Menschen vom Hungertod bedroht sein werden wie in diesem Jahr.[3]
Die letzten großen Wirtschaftskrisen zogen äußerst bemerkenswerte Folgen nach sich: Auf die Krise von 2008 folgten der Brexit oder die Spaltung der Eurozone in Nord und Süd. Auf die Krise von 1929 folgten die Machtergreifung der Nazis und damit auch der Zweite Weltkrieg. Es ist viel zu früh vorherzusagen, was sich nach der heutigen Wirtschaftskrise ereignen wird, aber eins ist klar. Wir interessieren uns viel weniger dafür, als man nach den Erfahrungen der vorherigen Krisen erwarten würde. Bis jetzt gibt es trotz riesiger Verluste an der New Yorker Aktienbörse anscheinend keinen Tag, der wie der „Schwarze Donnerstag” von 1929 in die Geschichte eingehen wird. Ich bin nahezu alt genug, um mich an die Finanzkrise von 2008 zu erinnern, an die Arbeitslosigkeit, die meine Familie betraf, und daran, wie, besonders nach der Pleite von Lehman Brothers, die Nachrichten immer mit Berichten über die Finanzmärkte oder etwas aus der Geschäftswelt anfingen und wie der Wirtschaftsteil anscheinend zur ganzen Zeitung wurde.
In der jetzigen Krise fehlt das Interesse nicht ganz – wie könnte es? – aber ich wiederhole, es ist deutlich schwächer, als es sein könnte und tatsächlich in der Vergangenheit gewesen ist. Dennoch zeichnet sich diese Wirtschaftskrise nicht nur durch ihre verheerende Größe aus, sondern auch durch ihre einzigartige Ursache, nämlich die Stilllegung der Wirtschaft durch die Regierungen selbst. Reportagen im neuesten Spiegel (18.04.) über die Wirtschaft bleiben im Wirtschaftsteil. Noch merkwürdiger als das geringe Interesse am Zusammenbruch der Wirtschaft ist die Zustimmung zu dieser Krise. Ein außerirdischer Beobachter und Erd-Laie könnte fast glauben, diese Krise sei eine gewollte Krise, denn 91% der Briten fordern laut einer Umfrage am 16. April eine Verlängerung des wirtschaftlichen Stillstands.[4] Laut einer anderen Umfrage hielten nur 13% der Deutschen (wenigstens Anfang April) die ergriffenen Maßnahmen für übertrieben.[5] Auch in den USA, wo es in einigen Bundesstaaten wegen der von der Regierung befohlenen Wirtschaftskrise zu Demonstrationen kommt, befürworten rund 60% der Bevölkerung die wirtschaftliche Zwangspause.[6]
Natürlich ist diese Krise unerwünscht. Es wäre unangemessen, das Gegenteil zu behaupten. An einem Ende des Spektrums bedeuten stillgelegte Einrichtungen wie Fitness-Studios oder Restaurants, dass Menschen im alltäglichen Leben wenig von dem genießen können, was sie früher genossen haben. Am anderen Ende entstehen dadurch mögliche Existenz- oder Arbeitsplatzverluste, die Menschen sowohl materiell als auch psychologisch den Boden unter den Füßen wegziehen können. Umso mehr müssten wir uns aber deswegen fragen, warum diese schwerwiegende Krise (deutlich) weniger Aufmerksamkeit erregt, wenn die Antwort nicht offensichtlich wäre: Corona.
Eine Seuche lenkt uns größtenteils von der Wirtschaftskrise ab. Die Natur mischt sich weltweit in das Leben der Menschen ein – für viele zum ersten Mal. Neben ihr wirken die menschliche Gesellschaft und ihre Schwankungen relativ unwichtig. Yuval Noah Harari erklärt den Erfolg des Menschen dadurch, dass er mit zahlreichen anderen Menschen überall zusammenarbeiten kann, auch wenn er sie nicht persönlich kennt, während ähnlichen Tieren wie Schimpansen diese Fähigkeit fehlt. Nur einige dutzende Schimpansen können die Autorität eines Alpha-Schimpansen anerkennen, bevor die Gruppe zu groß wird und sich zwangsläufig spaltet, aber Milliarden von Menschen können zugleich die Autorität eines Premierministers (wie Bürger*innen in Indien) oder des US-Dollars (wie Menschen weltweit) anerkennen und nach gemeinsamen Zielen streben. Dafür nutzt der Mensch seine Fähigkeit, dem Nichtexistierenden eine Existenz zu verleihen. Die Macht eines Dollars, eines Königs oder eines Gesetzes ist ein Erzeugnis des menschlichen Geistes, und nicht naturgegeben wie der Mond oder die Sonne. Der Mensch sei das einzig bekannte Tier, das in dieser Doppelwelt aus der „physischen“ Wirklichkeit und jener der ,,gemeinsamen Geschichten … in den Köpfen’’ lebt, schreibt Harari.[7]
Jetzt erinnert Corona uns daran – sei es bewusst oder unbewusst -, dass wir letztendlich Naturwesen sind und eine Naturwelt bewohnen. Genauer gesagt ist es nicht das Coronavirus, das als Gedächtnisstütze dient, sondern die Furcht um das eigene Leben oder das der uns Nahestehenden. Das drückt sich durch unsere relativ gedämpfte Reaktion auf die Wirtschaftskrise aus. Das drückt sich auch durch die plötzlich zusammengestellten Rettungspakete in Billionenhöhe aus, die Wirtschaften (genauer gesagt: von der Wirtschaft abhängige Menschen) retten sollen. Von nichts kommt… Geld. Noch ein Beweis dafür, dass die meisten von uns erkennen, dass die Wirtschaft da ist, um uns am Leben zu halten, und nicht umgekehrt. Wenn es um Leben und Tod geht, fallen Schuldenbremsen und finanzielle Hemmungen weg. Gemeinsam verändern wir die Geschichten in unseren Köpfen.
Natürlich ist die Wirtschaft wichtig, aber die jetzige Situation zeigt mit aller Deutlichkeit, dass sie in letzter Instanz ein Produkt unseres Geistes ist. Das Leben aber ist eine physische, biologische Wirklichkeit und daher ein Zweck, den man nicht zugunsten des Mittels gefährden sollte. Die Wirtschaft dient dem Leben und nicht das Leben der Wirtschaft. Oder mit anderen Worten: Die Wirtschaft können wir wieder hochfahren, das Leben nicht.
Der versteckte Segen Coronas könnte und sollte darin liegen, dass wir mehr über die Beziehung zwischen unseren physischen und vorgestellten Wirklichkeiten nachdenken. Professor Marshall Burke rechnet beispielsweise vor, dass die Anpassung der chinesischen Wirtschaft an das real existierende Virus wahrscheinlich schon 77.000 Menschen einen frühen Tod durch Luftverschmutzung erspart hat.[8] Absurd wäre es, daraus zu schließen, dass wir die Wirtschaft dauerhaft herunterfahren sollten. Bevor man zu diesem Schluss kommen könnte, müsste man mögliche Todesfälle durch z.B. erhöhte Armut einrechnen, und es geht außerdem nicht nur um die Zahl der Lebenden, sondern auch um die Lebensqualität. Aber 77.000 gerettete Leben – Mütter, Väter, Kinder – vor einer einzigen Todesursache innerhalb von nur zwei Monaten, sollten uns wenigstens einen Denkanstoß geben. Wir sollten uns nach der jetzigen Krise fragen, wie wir unsere vorgestellte, gesellschaftliche Welt langfristig in Einklang mit der physischen, natürlichen Welt bringen können. Die spürbaren Sorgen, die sich viele um sich selbst beziehungsweise um ihre Verwandten machen, würden wir uns auch um unsere ungeborenen Verwandten beziehungsweise zukünftige Generationen machen, wenn wir nur die zukünftigen Krisen der Naturwelt so unmittelbar erleben könnten wie die jetzige. Genau wie wir jetzt unsere gemeinsamen Geschichten und Wertevorstellungen in den Köpfen verändern, um uns selbst zu beschützen, sollten wir es wagen, unsere gemeinsamen Geschichten in den Köpfen und unser Benehmen dementsprechend zu verändern, um zukünftige Generationen vor Problemen wie der Klimakrise oder dem Artensterben zu beschützen. So schwierig ist es bei Corona offenbar nicht; so schwierig muss es hinsichtlich zukünftiger Generationen auch nicht sein. Bisher fehlt der Wille. Nach Corona wird es hoffentlich einfacher sein, ihn heraufzubeschwören.
Ein Umschreiben unserer Geschichten fordert ein Gespräch über deren bisherige Hauptfiguren. „Frau Bruttoinlandsprodukt“ (BIP) wirkt müde und gelangweilt, geeignet eher für eine Nebenrolle als für die Hauptfigur. Sie stammt aus den 1930ern, als die amerikanische Regierung angesichts der damaligen Weltwirtschaftskrise dringend Daten zum Nationaleinkommen brauchte, aber selbst damals warnten seine Erfinder vor der Verherrlichung dieser Zahl. Simon Kuznets mahnte, dass „das Landeswohl kaum von einem Nationaleinkommensmaß wie hier definiert abzuleiten“ sei.[9] 1995 bemerkten einige Ökonomen, dass „ein Krebspatient im Endstadium, der zugleich eine teure Ehescheidung durchlebt’“ nach dem BIP ein „nationaler Wirtschaftsheld“ sei, weil er am meisten ausgeben müsse und „Frau BIP“ alle Ausgaben gleich seien.[10] Wir können uns auch zwei Krankenhäuser vorstellen, die der Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung stehen. Das eine könnte wesentlich besser als das andere sein, indem es mehr Patienten mit weniger Personal heilen kann. Dieses effizientere Krankenhaus täte aber weniger für das BIP als das ineffiziente, da die Kosten von letzterem höher wären. Trotzdem sind sowohl glücklose Wirtschaftsminister*innen weltweit als auch die meisten Wähler*innen von einer Zahl besessen, die kein Maß des allgemeinen Wohls ist und niemals ein Maß des allgemeinen Wohls sein sollte.
Jedenfalls misst das BIP die Gegenwart viel besser als die Zukunft, denn die Zukunft spielt nicht einmal eine flüchtige Rolle bei der Berechnung des BIP. An sich ist das kein Vorwurf gegen das BIP als Indikator. Man konzipierte das BIP zu einer Zeit, als die größte Herausforderung die Überwindung der Weltwirtschaftskrise war. Und das um jeden Preis. Dafür hat das BIP als Maßstab allen Marktgeschehens gute Dienste geleistet. Es ist eher ein Vorwurf gegen unsere kurzsichtige Politik und alte Faulheit, die uns bisher daran hindern, andere Indikatoren zu benutzen, die den heutigen Herausforderungen angemessen sind. In den 1930ern war die Herausforderung, die Nachfrage anzukurbeln. Aber heute müssen wir nicht nur Corona mit möglichst niedrigen Verlusten an Menschenleben und Arbeitsplätzen überstehen, sondern auch das Wirtschaftsleben so führen, dass auch zukünftige Generationen ein menschenwürdiges Leben mit eigenen Handlungsspielräumen führen können. Bedrohungen wie der Klimawandel und unsere langfristigen Einwirkungen auf Ökosysteme, von denen wir abhängen, stellen dies in Frage. Um solchen riesigen Herausforderungen gerecht zu werden, brauchen wir Indikatoren, die auch die Zukunft der Menschheit einrechnen.[11] Auch beim besten Willen findet der Blinde es schwer, den richtigen Weg zu gehen.
Die Corona-Pandemie und die damit verbundene Wirtschaftskrise könnten wohl neue politische Spannungen oder sogar Kriege nach sich ziehen, genauso wie vorherige Krisen. Wenn überhaupt etwas Gutes aus Corona kommen sollte, dann die gerade noch rechtzeitig gekommene Mahnung, dass unsere vorgestellte Wirklichkeit, unsere „Geschichten in den Köpfen“ letztendlich mit der realen, natürlichen Wirklichkeit versöhnt werden müssen. Unsere menschliche Reaktion auf Corona zeigt, dass Herman Daly’s Spruch: „Die Wirtschaft ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Umwelt, nicht umgekehrt”,[12] auch tief in unseren Seelen liegt. Wir erleben gerade die Wahrheit, dass das BIP nur ein Indikator unter vielen ist. Wir lernen täglich, dass sich unsere gemeinsamen Geschichten wenn nötig rasch zum Gemeinwohl verändern können. Die meisten Länder müssen sich jetzt zwischen dem Herunterfahren der Wirtschaft oder vielen frühzeitigen Todesfällen entscheiden. Wenigstens haben wir die Wahl. Um zu vermeiden, dass zukünftigen Generationen beide Übel aufgedrängt werden, sollten wir uns nach der jetzigen Krise darauf besinnen, wie wir uns während Corona gefühlt haben und dann über umfassendere Fortschrittsindikatoren nachdenken. Wir sollten es uns zu Herzen nehmen, dass die Wirtschaft dem Leben dient. Nicht umgekehrt.
[1] https://www.theguardian.com/business/2020/mar/26/us-unemployment-rate-coronavirus-business
[2] https://www.ft.com/content/180dfbd8-4fb0-40df-8236-c376620b215b
[3] https://www.theguardian.com/world/2020/apr/21/global-hunger-could-be-next-big-impact-of-coronavirus-pandemic
[4] https://yougov.co.uk/topics/politics/survey-results/daily/2020/04/16/73305/1
[5] https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/coronacompass/coronacompass-15/
[6] https://www.nbcnews.com/politics/meet-the-press/poll-six-10-support-keeping-stay-home-restrictions-fight-coronavirus-n1187011
[7] Noah Harari, Yuval. Eine kurze Geschichte der Menschheit, Deutsche Verlags-Anstalt, 2. Auflage (2013). Kapitel 2 (S.41).
[8] http://www.g-feed.com/2020/03/covid-19-reduces-economic-activity.html
[9] https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/3486/file/WS42.pdf, S. 16
[10] https://www.theatlantic.com/past/docs/politics/ecbig/gdp.htm
[11] Eine lesbare und interessante Analyse vom BIP und verschiedenen Alternativen bzw. zusätzlichen Indikatoren: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/3486/file/WS42.pdf
[12] Auf Daly zurückzuführen in Clark, Tristan, Stick This in Your Memory Hole, aduki independent press, (2007), S. 19.