Einleitung, von Grace Clover.
Wie wir aus Büchern wie George Orwells 1984 oder Pierre Boulles Planet der Affen lernen können, dienen oft Fiktionen bzw. Dystopien als Anlass, über unsere eigene Gesellschaft nachzudenken. Die Frage, wie wir unsere demokratischen und ökonomischen Systeme sowie unseren Umgang mit der Umwelt möglichst generationengerecht gestalten können, ist heute wichtiger denn je. Dystopische Texte, die das Jung-Alt-Verhältnis thematisieren, sind allerdings selten. Die SRzG hat sich entschieden, eine anregende Kurzgeschichte auf ihrer Webseite zu publizieren, die vom Autor der amerikanischen Webseite gerontocracy.com/ erschienen ist. Der englische Originaltext findet sich unter diesem Link. Die deutsche Fassung wurde vom SRzG-Team weiterentwickelt, wofür der Autor seine Erlaubnis gegeben hatte.
Planet der Alten, von Andy Lerner
In der Milchstraße gibt es im Orion-Arm einen kleinen Planeten voller Flora und Fauna, auf dem die Lebenserwartung der dominanten Tierart bis zu 150 Jahre beträgt. Technologische Entwicklungen der jüngeren Zeit haben es ermöglicht, die Lebenserwartung und die Bevölkerungszahl stark zu erhöhen.
Die Spezies gibt es seit hunderttausenden von Jahren, aber ihre Bevölkerung hat sich erst in den letzten 50 Jahren verdoppelt, was zu einer starken Belastung des Planeten, seiner Ressourcen und seines Klimas geführt hat. Noch nie war so deutlich zu erkennen, wie dringend Governance-Strukturen, die auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind, gebraucht werden. Diejenigen, die bereits über 65 Jahre alt sind oder sich diesem Alter nähern, werden im Folgenden ‚die Alten‘ genannt.
Dieser Planet, der ‚Planet der Alten‘, ist sozial fragmentiert, wird aber von drei Supermächten dominiert, die alle von Alten regiert werden. In der Kultur der Supermacht B genießen die Alten hohes Ansehen. Man folgt ihnen kritiklos; der Respekt vor ihnen gilt als höchste Tugend. In Supermacht C zwingt der alte Autokrat die Jungen, in einem schrecklichen Krieg für die Gebietserweiterung zu kämpfen. Supermacht A ist die führende Supermacht und die einzige, die eine Demokratie zu sein scheint. In der Supermacht A werden die Regierenden nicht direkt von den Bürgern gewählt. Stattdessen erhalten in einem komplizierten regionalen System kleine Regionen, in denen ältere Menschen überrepräsentiert sind, ein überproportionales politisches Gewicht. Wer bis zum Ende der Legislaturperiode nicht älter als 22,2 Jahre ist, darf nicht kandidieren. Die Regierung befehligt eine Armee von jungen Menschen, die unter dem Kommando von Truppenkommandeuren, die 4,5-mal so alt sind wie sie selbst, widerspruchslos ihr Leben riskieren.
Die Legislative der Supermacht A wird von den Alten dominiert; ein Senioritätssystem bedingt die Macht; und es gibt keine Amtszeitbeschränkung. Die Zweite Kammer ist nach dem Begriff ‚alter Mann‘ benannt. Die Verfassung verbietet es jungen Menschen, sich in der Legislative zu engagieren oder als regionale Kandidat:innen anzutreten. Die Richter:innen werden überwiegend aus den Reihen der Alten gewählt und dienen auf Lebenszeit.
Fiskalpolitik bedeutet in der Supermacht A im Wesentlichen, jüngere Bürger:innen zu besteuern und das Geld an die Alten umzuverteilen, die lebenslang Einkommen und Leistungen erhalten. Obwohl die Lebenserwartung gestiegen ist und die Alten mehr Unterstützung als je zuvor erhalten, betrachten sie die staatlichen Zahlungen als Rechte. Auch das Steuersystem begünstigt die Alten. Die Kommunen belasten ihre jungen Bürger:innen, um für die Rentner:innen sorgen zu können, und leiten Geld aus jungen, lebendigen Regionen in die Gegenden, in denen die Alten leben. Tausende anderer Maßnahmen wirken sich negativ auf junge Menschen aus; besonders heftig sind Maßnahmen, die den Wohnungsmarkt betreffen. Die öffentlichen Investitionen in eine moderne Infrastruktur sind kläglich unzureichend, und die größten öffentlichen Projekte, die dennoch durchgeführt werden, sind fremdfinanziert, was die Verantwortung und oft auch die Zinsen auf künftige Generationen verlagert. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist selten, denn die Löhne sind nach Dienstalter gestaffelt. Es gibt keine Generationengerechtigkeit: Die Alten besitzen im Durchschnitt zehnmal so viel Vermögen wie die Jungen.
Der Klimawandel und der von der dominanten Tierart verursachte Rohstoffmangel bedrohen den Planeten der Alten. In diesem Konflikt stehen die globalen Grundstoffkonzerne, die mehrheitlich von den Alten kontrolliert werden, einer Bewegung von jungen Aktivist:innen gegenüber. Die prominenteste von ihnen ist erst 21 Jahre alt.
Der Reichtum dieser Welt sammelt sich in bestimmten Regionen und in Bevölkerungsgruppen, die viel älter sind als der Durchschnitt. Steuerprivilegien und andere politische Maßnahmen, die den Alten Vorrang einräumen, sowie die rasch steigende Lebenserwartung verschärfen diese Vermögensungleichheit zunehmend. Der Reichtum und die Macht vieler Alten stammen aus Zeiten verstärkter Diskriminierung, und daher sind diese wohlhabenden und einflussreichen Alten weniger vielfältig als die Gesamtbevölkerung. Die Supermacht A und andere wohlhabende Regionen – allesamt Gerontokratien – zeigen nur wenige Interesse daran, sich mit der globalen Ungleichheit zu beschäftigen.
Obwohl die hohe Jugendarbeitslosigkeit eine globale Krise darstellt, verteidigen die Alten ihre führende Rolle im Handel, in der Regierung und in anderen Institutionen mit dem Hinweis auf ihre große Erfahrung. In der Realität erhalten die Alten ihre unverhältnismäßige Macht durch Reichtum, politischen Einfluss und persönliche Netzwerke. Die zusätzliche Erfahrung der Alten gleicht oft nicht die moderne Ausbildung, das technische Wissen, die Vielfalt und die frischen Perspektiven der Jungen aus; jedenfalls rechtfertigt ihre Erfahrung nicht die zehnfache Menge an Eigenkapital.
Auf dem Planeten der Alten übertreffen die vermeidbaren Todesfälle zahlenmäßig die natürlichen Todesursachen. Suizid, Homizid, Autounfälle und regionale Kriege sind immer noch die häufigsten Ursachen für den Tod junger Menschen. Der globale Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung ist vor allem auf die Verlängerung der Lebenszeit der Alten zurückzuführen, eine Folge der Krankheitsbekämpfung und -prävention. Die Vermögensungleichheit ist ein wichtiger Indikator für die Sterblichkeit in allen Altersgruppen.
Auf dem Planeten der Alten scheinen die Jungen ihre Unterwerfung zu akzeptieren. Fast alle jungen Menschen müssen sich auf alltägliche Schwierigkeiten konzentrieren. Viele fühlen sich angesichts der ausweglosen wirtschaftlichen Situation hoffnungslos. Die Überzeugung, dass ihre Regierungen scheitern werden, bevor die jungen Menschen selbst einmal alt sind und Rente bekommen, ist weit verbreitet. Die Regierung von Supermacht A definiert Altersdiskriminierung als Diskriminierung nur gegen privilegierte Alte, nicht aber gegen benachteiligte junge Erwachsene. Die Schönheitsideale der dominanten Spezies haben eine Vorliebe für die Jugend, eine Tatsache, die die Alten motiviert, an ihrem Anspruchsdenken festzuhalten.
Der Planet der Alten ist eine fortgeschrittene Gesellschaft mit entwickeltem technologischem Wissen. Ein Blick in die Zukunft zeigt jedoch steigende Konflikt- und Armutsniveaus, verursacht durch nicht nachhaltiges Klima- und Ressourcenmanagement, unzureichende intergenerationelle Investitionen und ungleiche Vermögensverteilung. Die besten Wissenschaftler:innen suchen nach einer einheitlichen Feldtheorie; einem Rahmenkonzept, das die fundamentalen Kräfte des Universums erklären würde. Aber sie scheitern an einem Rahmenkonzept, um ihre eigenen unhaltbaren Lebensbedingungen zu erklären.
Ein Beitrag von Andy Lerner, Übersetzung und Einleitung von Grace Clover.