Von Nikolas Klausmann, SRzG-Botschafter

In der zweiten Jahreshälfte 2020 übernahm Deutschland zum 13. Mal den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Zwar scheint diese Zeit maßgeblich durch die Herausforderung der COVID-19-Pandemie geprägt gewesen zu sein. Dennoch sollte Deutschland diesen Hebel nutzen, um Klimaschutz durch verbindliche europäische Regelungen zu einer treibhausgasneutralen Energiewirtschaft, zu einer „Erneuerbaren“ Energieunion, voranzutreiben. Bislang wurden zwar ambitionierte Ziele hinsichtlich CO2-Emissionsminderung und dem Ausbau Erneuerbarer Energien formuliert. Diese sind aber für die Mitgliedstaaten nur teilweise verbindlich, lassen sich nicht durchsetzen oder sind schlicht zu unkonkret und weich.

Warum wir eine „Erneuerbare“ Energieunion brauchen

Die Schaffung einer sogenannten Energieunion ist seit vielen Jahren prominentes Ziel europäischer Energiepolitik (Europäische Kommission 2015 und 2010). Bei diesen Bemühungen geht es einerseits um die finale Schaffung eines Energiebinnenmarktes. Zielvorstellung ist zudem eine geeinte Energieaußenpolitik, auch mit Blick auf die bestehende Abhängigkeit zu russischem Erdgas (Germelmann 2016). Es handelt sich dabei um wichtige Ziele, deren Erreichen im Interesse aller Europäer*innen liegt. Allerdings schienen die ursprünglichen Architekt*innen der Energieunion den Elefanten im Raum nicht erkannt zu haben: Die Europäische Union (EU) braucht so früh wie möglich eine treibhausgasneutrale Energiewirtschaft (Energiewende). Nur so können die Mitgliedstaaten ihre Nationally Determined Contributions zu einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad im Rahmen ihrer Verpflichtungen des Pariser Klimavertrages leisten und zukünftigen Generationen einen lebenswerten Planeten hinterlassen (SRzG 2019). Denn der Energiesektor ist deutschland- und europaweit mit weitem Abstand größter Verursacher von Treibhausgasemissionen (Europäische Parlament 2018). Der Sachverständigenrat für Umweltfragen geht mittlerweile soweit, aus dem unumstößlichen Wissen über ökologische Belastungsgrenzen der Erde Handlungs- und Schutzpflichten des Staates herzuleiten (SRU 2020)! Tatsächlich brauchen wir also eine „Erneuerbare“ Energieunion.

Schon viel geleistet! Winterpaket?

Die in der Verantwortung stehenden Akteure werden nun entgegenhalten, dass die EU hier doch bereits viel geleistet habe: Der Europäische Rat legte bereits im Jahr 2014 das gesamteuropäische Mindestziel für das Jahr 2030 fest, nach dem unter anderem der Anteil Erneuerbarer Energien am Energieverbrauch auf mindestens 27 % und die Energieeffizienz um 27 % erhöht werden sollen (Europäischer Rat 2014). Diese Zielsetzung wurde mittels der inzwischen geltenden, neugefassten Richtlinie zur Förderung über erneuerbare Energiequellen (RED-II) im Rahmen des vierten Energiebinnenmarktpaket, oder anders „Winterpaket“, im Jahr 2018 auf 32 % erhöht. Zur Erreichung dieser Ziele installierte der europäische Gesetzgeber mit der Verordnung über das Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz (Governance-VO) einen sogenannten „Umbrella-Rechtsakt“, der die übergreifende Steuerung der Energie- und Klimapolitik für den Zeitraum von 2021 bis 2030 zum Ziel hat. Durch die Verabschiedung als unmittelbar geltenden Verordnung und die Nutzung komplexer Melde-, Berichts- und Monitoringinstrumente soll sichergestellt werden, dass die Mitgliedstaaten ihre Zielpfade zur Energiewende auch durchhalten.

Schon viel geleistet! Green Deal?

Daneben verfolgt der aktuell viel diskutierte Green Deal – zunächst auf einer unverbindlichen Mitteilung der Europäischen Kommission beruhend – das Ziel einer europaweiten Treibhausgasreduktion auf null bis 2050, sowie eine Verschärfung der Reduktionsziele für 2030 (Europäische Kommission 2019). Ein Anliegen also, welches zwingendermaßen auch in den Energiesektor ausstrahlt. Die Kommission stellt in Aussicht, alle einschlägigen klimabezogenen Politikinstrumente zu überprüfen und wenn notwendig zu überarbeiten. Vor wenigen Monaten lieferte sie dann auch erstmalig ab und brachte die Verordnung zur Schaffung des Rahmens für die Verwirklichung der Klimaneutralität, auch bekannt als “Europäisches Klimagesetz“, in das Gesetzgebungsverfahren ein. In deren Rahmen soll die Kommission ermächtigt werden, Zielpfade zur Erreichung der Reduktionsziele bis 2030 und 2050 für die Mitgliedstaaten festzulegen. Damit sollen die zur Verfügung stehenden Werkzeuge aus der Governance-VO flankiert werden.

Empfehlungen statt Sanktionen

Das auf den ersten Blick mächtige Projekt Energieunion aus dem Jahr 2015 entpuppte sich als Scheinriese, da es sich bei den Bemühungen mehr um einen rein „plakativen Titel“ und weniger um die Schaffung neuer institutioneller Rahmenbedingungen handelte (Gundel 2020). Doch auch die Governance-VO, die RED-II und das Europäisches Klimagesetz sind wohl nicht ausreichend wirkungsvoll, um eine europäische Energiewende nachhaltig zu etablieren. Johanna Wolffs Aufruf zum „Mut für Verbot“ folgend (Wolff 2019), sucht man vergeblich nach hart eingreifenden, aber notwendigen ordnungspolitischen Regelungen, wie etwa einem europäischen Kohle- oder Atomausstieg. Außerdem fehlt es an nationalen Ausbauzielen für Erneuerbare Energien. Der Ausbau Erneuerbarer Energien und die Einsparung von Treibhausgasemissionen sind nämlich nach dem nun geltenden Rechtsrahmen ausschließlich EU-weit berechnet. Damit sind die Zielvorgaben weich (Leopoldina/acatech/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften 2018). Ebenfalls handelt es sich bei den EU-Rechtsakten eben nur um einen rechtlichen Rahmen zur Überwachung und Nachsteuerung. Innerhalb dessen kommt es vor allem auf die individuellen Ambitionen der Mitgliedstaaten an. Denn die EU verfügt ganz einfach nicht über ausreichende Sanktionsmechanismen, um die gesteckten Ziele zur Treibhausgasreduktion und zum Ausbau Erneuerbarer Energien tatsächlich auch gegenüber Mitgliedstaaten durchzusetzen. Kommen diese den Erwartungen nicht nach, kann lediglich mit unverbindlichen Empfehlungen reagiert werden. Das Damoklesschwert drohender Vertragsverletzungsverfahren oder Umweltverbandsinterventionen würde Abhilfe schaffen, ist aber im geltenden Recht soweit nicht vorgehsehen (Schlacke 2020). Hier werden Erinnerungen wach: Zum Beispiel an die Debatte zu fehlenden Durchsetzungsmechanismen für Umweltschutzvorgaben in internationalen Wirtschaftsübereinkommen – wie etwa dem geplanten, aber kurz vor dem Scheitern stehenden Mercosur-Abkommen (Könneke 2019). Empfehlung statt Verpflichtung als Kredo des europäischen Klima- und Umweltschutzes?

Fehlende Rechtsetzungskompetenzen der EU als Hemmnis einer generationengerechten europäischen Energiewendepolitik

Auch wenn fehlender politischer Wille angesichts des zu beobachtenden mächtigen Aufschwungs grüner Parteien in Europa ein Rätsel bleibt: Die unzureichende Konkretheit europäischer Energiewendepolitik lässt sich erklären. Selbst wenn die EU solche Maßnahmen erlassen wollte, die die Mitgliedsstaaten unmittelbar binden würden, dürfte sie es nur unter ganz besonderen Umständen. Ihr fehlt ganz einfach die notwenige Rechtsetzungskompetenz. In der EU gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Das bedeutet zunächst: Grundsätzlich sind die Mitgliedstaaten die Herrscher über die für sie geltenden Gesetze, außer EU-Organe sind durch die europäischen Verträge ausdrücklich zur Rechtssetzung ermächtigt. Zur europäischen Energiepolitik sagt das Primärrecht in Art. 194 Abs. 1 lit. c des Vertrags über die Arbeitsweise der Union (AEUV) zwar zunächst: „Die Energiepolitik der Union verfolgt (…) die Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen“. Um dann in Abs. 2 aber hinzuzufügen, dass „diese Maßnahmen (…) nicht das Recht eines Mitgliedstaats (berühren), die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen“.

Lösungsmöglichkeiten

Ist eine konkrete Energiewendepolitik der EU, die auch die Nationalstaaten einbezieht, damit ausgeschlossen? Nein, denn zum einen schreibt das Primärrecht in Art. 192 Abs. 2 AEUV ebenfalls vor, dass eben solche Maßnahmen, die die allgemeine Struktur der Energieversorgung oder den Energiemix eines Mitgliedstaats erheblich berühren, eines einstimmigen Beschlusses des Rates benötigen – dann wären sie also zulässig. Zum anderen ließe sich der AEUV selbstverständlich auch ändern. Letzteres läge allerdings vor allem in der Macht der Mitgliedstaaten und nicht der EU-Organe (Klausmann 2019). Ebenfalls ist letzteres ohne Frage auch äußerst unwahrscheinlich (Knodt et al. 2020). Zu uneinig sind sich die Mitgliedsstaaten, was ihre Energiewende- und Umweltschutzambitionen anbelangt. Zu sehr hängen sie an ihren Entscheidungshoheiten. Auf eine Änderung der Struktur der Energieversorgung und des Energiemix hinzuwirken allerdings – wohl wissend, dass auch hier die Erfolgsaussicht gering sein werden – und für einen einstimmigen Beschluss des Rats der Europäischen Union zu werben, hätte das Ausrufezeichen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sein können. Zu spät ist es dafür noch nicht.

 

Quellenverweise:

Europäisches Parlament (2018): Treibhausgasemissionen nach Ländern und Sektoren (Infografik). https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20180301STO98928/treibhausgasemissionen-nach-landern-und-sektoren-infografik. Abgerufen am 09.12.2020.

Europäischer Rat (2014): Schlussfolgerungen: Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030, EUCO 169/14.

Germelmann, Claas F. (2016): Die Energieunion – Eine neue Perspektive für die europäische Energiepolitik? In: Europarecht, 51 (1), S. 3-27.

Dauses, Manfred / Ludwigs, Markus (2020): Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 50. Ergänzungslieferung, München: C.H. Beck.

Klausmann, Nikolas (2019): Nur Populismus? AfD will das Europäische Parlament „abschaffen“, abrufbar unter: https://polis180.org/polisblog/2019/05/23/nur-populismus-afd-will-das-europaeische-parlament-abschaffen/. Abgerufen am 09.12.2020.

Knodt, Michèle et al. (2020): Ariadne-Kurzdossier. Wegmarken für das EU-Klimaziel 2030.

Versteckte Risiken und Chancen der Szenarien der EU-Kommission für den Pfad zur Klimaneutralität. https://stiftung-umweltenergierecht.de/wp-content/uploads/2020/12/Ariadne-Kurzdossier_Wegmarken-Klimaziel-EU2030_Dez20.pdf. Abgerufen am 09.12.2020.

Könneke, Jule (2019): Mehr Umweltschutz durch das EU-MERCOSUR Assoziierungsabkommen? https://polis180.org/polisblog/2019/11/05/mehr-umweltschutz-durch-das-eu-mercosur-assoziierungsabkommen/. Abgerufen am 09.12.2020.

Europäische Kommission (2019): Mitteilung der Europäischen Kommission: Der europäische Grüne Deal, COM (2019) 640 final v. 11.12.2019.

Europäische Kommission (2015): Mitteilung der Europäischen Kommission: Rahmenstrategie für eine krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzstrategie, COM (2015) 80 final v. 25.2.2015.

Europäische Kommission (2010): Mitteilung der Europäischen Kommission: Energie 2020: Eine Strategie für wettbewerbsfähige, nachhaltige und sichere Energie, COM (2010) 639 final v. 15.12.2010.

Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina / acatech / Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2018): Stellungnahme zur Governance für die Europäische Energieunion. Gestaltungsoptionen für die Steuerung der EU-Klima- und Energiepolitik bis 2020. Halle (Saale): Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V., Nationale Akademie der Wissenschaften; München: acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e. V. ; Mainz: Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften e.V.

Sachverständigenrat für Umweltfragen (2020): Impulspapier Dezember 2020: Nachhaltigkeit als Aufgabe historischer Dimension: Deutschland jetzt auf einen ökologisch zukunftsfähigen Pfad bringen. https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2020_12_impulspapier_nachhaltigkeit.pdf;jsessionid=B9BECA82CF3EEC700FA0274844CE0EE4.1_cid292?__blob=publicationFile&v=5. Abgerufen am 09.12.2020.

Schlacke, Sabine (2020): Klimaschutzrecht im Mehrebenensystem. In: Zeitschrift für das gesamte Recht der Energiewirtschaft, 32 (10), S. 355-363.

Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (2019): SRzG-Positionspapier: Generationengerechte Klimapolitik. https://generationengerechtigkeit.info/wp-content/uploads/2019/04/PP_Generationengerechte-Klimapolitik.pdf. Abgerufen am 09.12.2020.

Wolff, Johanna (2019): Mut zum Verbot. https://verfassungsblog.de/mut-zum-verbot/. Abgerufen am 09.12.2020.