Von Grace Clover und Lena Winzer
Grace Clover und Lena Winzer, Projektmanagerinnen der SRzG, berichten von ihrem Besuch beim Longplayer in London in der vergangenen Woche.

Wie die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRzG) bereits 2023 schrieb, können Proteste, Demonstrationen und neue Studien entscheidend dazu beitragen, Aufmerksamkeit für Generationengerechtigkeit zu schaffen. Doch das sind nicht die einzigen Wege. Auch die Kunst kann eine zentrale Rolle dabei spielen, generationengerechte Themen und langfristiges Denken sichtbar zu machen.

„Long Term Art Projects“ ist eine informelle Vereinigung langfristiger Kunstprojekte, die Ende 2022 gegründet wurde. Zu ihr zählen unter anderem die Future Library in Oslo, Letters of Utrecht, die Clock der Long Now Foundation sowie die Zeitpyramide im bayerischen Wemding. Diese Projekte versuchen, das Konzept der sogenannten „deep time“ – also tiefer, geologischer Zeit – erfahrbar zu machen und unsere Perspektiven weit über die Lebensspanne eines einzelnen Menschen hinaus zu erweitern. Indem sie die Kürze eines Menschenlebens ins Verhältnis setzen zum Alter der Erde, führen sie uns aus den kurzfristigen Zyklen wirtschaftlicher Profite, medialer Aufgeregtheit und politischer Wahlperioden heraus – hin zu einem langfristigen Blick. Diese Form der Kunst kann als Gegengift zu dem verstanden werden, was man „Präsentismus“ nennt: eine systematische Bevorzugung der Gegenwart in unseren Gesetzen, politischen Strukturen, Wirtschaftssystemen und Denkprozessen – zum Nachteil zukünftiger Generationen. Präsentismus ist dabei nicht mit dem berechtigten Fokus auf akute Notsituationen oder reale Probleme im Jetzt zu verwechseln. Vielmehr geht es um eine ignorante Blindheit gegenüber langsamen, sich verstärkenden Risiken wie dem Klimawandel oder überlasteten Sozialsystemen. Der Begriff macht deutlich, dass wir oft fälschlicherweise annehmen, die Zukunft sei weniger real oder weniger schmerzhaft als die Gegenwart.

Am Samstag, den 5. April 2025, hatten wir die außergewöhnliche Gelegenheit, am 25-jährigen Jubiläum des „Longplayer“ teilzunehmen, eines jener langfristigen Kunstprojekte. Longplayer ist eine musikalische Komposition, die auf eine Laufzeit von tausend Jahren angelegt ist: Sie begann am 31. Dezember 1999 um Mitternacht und wird ohne Wiederholung bis zum letzten Moment des Jahres 2999 gespielt, bevor sie erneut beginnt. Die Komposition stammt von Jem Finer und wird auf tibetischen Klangschalen gespielt, die seither ununterbrochen erklingen. Normalerweise ist der Longplayer im Leuchtturm von Trinity Buoy Wharf in East London beheimatet – seinem ursprünglichen und fortdauernden Zuhause. Anlässlich des Jubiläums jedoch wurde er für ein Wochenende in das Roundhouse in Camden verlegt – ein Ort der Feier, der Reflexion und des Austauschs (siehe oben). Darüber hinaus kann der Longplayer weltweit über einen Livestream oder an speziellen Hörstationen mitverfolgt werden. Für seine Kontinuität sorgt der Longplayer Trust, eine kleine Gruppe von Treuhänder:innen, die für seine Pflege und Erhaltung verantwortlich ist.

Seit seiner Entstehung steht der Longplayer für die Frage: Wie lässt sich ein Musikstück über Generationen hinweg am Leben halten, selbst dann, wenn seine ursprünglichen Urheber:innen längst nicht mehr da sind? Der Longplayer will Zeit erfahrbar machen und dazu anregen, über langfristige Überlebensstrategien nachzudenken – gerade in einer Zeit, in der kurzfristige Entscheidungen nach wie vor den Status quo prägen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Länge der Komposition, sondern vor allem die stillen, tiefgehenden Fragen, die sie aufwirft: Was bedeutet es, etwas über ein Jahrtausend hinweg aufrechtzuerhalten? Welche Infrastrukturen, technisch, sozial, politisch und generationengerecht, müssen wir uns vorstellen, um etwas über eine solche Zeitspanne zu tragen? Die Klänge der tibetischen Klangschalen wirken dabei zugleich meditativ und mechanisch, körperlich und ätherisch. Die Komposition folgt einem algorithmischen Prinzip, das auf einer einfachen, aber eleganten Regel basiert und über Tage, Jahre und Jahrhunderte hinweg harmonische Muster erzeugt. Obwohl die Struktur festgelegt ist, wird kein Mensch das Werk je in seiner Gänze hören können. Es existiert jenseits der menschlichen Zeitskala – und doch ist es vollständig auf menschliche Fürsorge angewiesen.

Das Jubiläumswochenende im Roundhouse war ein seltener Moment innerhalb dieser leisen, kontinuierlichen Komposition , bei dem sich Zuhörer:innen, Künstler:innen, Komponist:innen und Zukunftsdenker:innen gemeinsam in Reflexion üben konnten. Umgeben von den sphärischen Klängen der Schalen und einer Gemeinschaft gleichgesinnter Hörer:innen wurde uns bewusst, dass der Longplayer mehr ist als nur Musik: Er ist ein generationengerechtes Gespräch. Als wir im kreisrunden Inneren des Roundhouse, einem umgenutzten viktorianischen Eisenbahngebäude, saßen, war die Symbolik kaum zu übersehen: Ein alter Ort beherbergt eine Vision für die ferne Zukunft. Podiumsdiskussionen, Live-Performances und Installationen zeigten über das Wochenende hinweg die Grundhaltung des Longplayers: langfristiges Denken und verantwortungsvolle Pflege. In Gesprächen über digitale Langzeitarchivierung, menschlich angetriebene Versionen der Komposition und kollaborative Bewahrung wurde deutlich: Kontinuität ist kein Selbstläufer, sondern ein gemeinschaftlicher Akt.

Im Rahmen des Symposiums trafen wir viele inspirierende Menschen, die sich mit langfristigem Denken, nachhaltiger Politik und Generationengerechtigkeit beschäftigen. Ein Highlight war ein „Circular Walk“ rund um den Primrose Hill, als Spiegelbild der Kreisstruktur des Longplayers und als Einladung, sich aus linearen Fortschrittserzählungen zu lösen. Geleitet wurde dieser Spaziergang von Robert Kingham, der uns die lokale Geschichte näherbrachte. Beim Durchqueren dieses historischen Viertels wurden wir ermutigt, unsere Augen für die sichtbaren Spuren der Vergangenheit zu öffnen. So etwa für die Rillen in der Eisenbrücke über dem Camden Lock (siehe Bild), die durch die Seile hunderter Pferdeboote zwischen den 1740er Jahren und dem frühen 20. Jahrhundert entstanden. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie wiederholte menschliche Praktiken die physische Welt prägen. Und wir gingen noch weiter zurück: In geologischer Tiefe erfuhren wir von der Entstehung des Primrose Hill durch 50 Millionen Jahre alte Eozäne-Tonerde und Kreide.

Doch was bringt es, die Augen für Geschichte und Geologie zu öffnen? Und was hat das mit langfristiger Kunst zu tun? Tatsächlich sind Rückblick und Ausblick zwei Seiten derselben Medaille. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die geologische und anthropologische Tiefenzeit um uns herum richten, wird klar: Wir sind lediglich Treuhänder:innen der Welt für zukünftige Generationen – sei es in fünf, fünfzig oder fünftausend Jahren. Wie das Sieben-Generationen-Prinzip lehrt, ist es wichtig, den Einfluss unserer Vorfahr:innen auf uns und unsere Welt zu betrachten, um zu erkennen, wie unsere Handlungen die Zukunft prägen werden. Die Wiederverbindung mit der natürlichen Welt und ein neues Verhältnis zur Zeit können ein heilsames Gegenmittel zum grassierenden Kurzfristdenken und Konsumrausch der Gegenwart sein.

Doch eine solche Verschiebung unserer Perspektive muss auch zu einem Wandel in unserem Verhalten und unseren politischen Entscheidungen führen. Auf individueller Ebene bedeutet das etwa, unsere Verantwortung gegenüber der Umwelt ernst zu nehmen und unsere CO₂-Emissionen bewusst zu reduzieren, wo immer möglich. Auf gesellschaftlicher Ebene gilt es, dringlich auf Herausforderungen wie demografischen Wandel, Erderwärmung oder wachsende Staatsverschuldung zu reagieren – um künftigen Generationen nicht irreversible Schäden zu hinterlassen.

Wie Richard Fisher, Autor von The Long View uns in einem Gespräch zur Bedeutung langfristigen Denkens mitgab:
„Es ist leicht anzunehmen, dass zukünftige Generationen in einer weit entfernten Zukunft existieren, losgelöst von unserem heutigen Leben. Doch das stimmt nicht – viele Bürger:innen des 22. Jahrhunderts leben bereits unter uns, als Kinder. Wenn wir ihnen eine bessere Welt hinterlassen wollen, müssen wir den langen Blick einnehmen.“