von Lena Winzer (SRzG-Projektmanagerin) und Jason Adolph (SRzG-Praktikant)
Am 23. Juli 2025 veröffentlichte der Internationale Gerichtshof (IGH) ein wegweisendes Gutachten zu den „völkerrechtlichen Verpflichtungen von Staaten im Hinblick auf den Klimawandel“. Darin stellte das Gericht klar, dass das bestehende Völkerrecht, also Verträge, Völkergewohnheitsrecht und die Regeln über die Staatenverantwortlichkeit, verbindliche Pflichten für Staaten begründet. Zum einen, die Pflicht, vorhersehbare Klimaschäden zu verhindern, aber auch Vorsorge- und strenge Sorgfaltspflichten einzuhalten (einschließlich der Regulierung privater Akteure), besonders gefährdete Staaten bei der Anpassung zu unterstützen, sowie das 1,5°C-Ziel des Pariser Abkommens als rechtlich verbindlichen Maßstab für staatliche Ambitionshöhe zu behandeln. Auch wenn das Gutachten formell nur beratenden Charakter hat, formuliert es klare rechtliche Erwartungen an Minderung, Anpassung und Wiedergutmachung, die internationale wie nationale Verfahren, Diplomatie und Politikgestaltung für viele Jahre prägen werden.
Wie die Welt den Gerichtshof an diesen Punkt brachte
Dieses Gutachten entstand nicht zufällig. Seine rechtlichen und politischen Ursprünge sind lehrreich für alle, die Recht als Praxis moralischer Vorstellung verstehen. Ausgangspunkt war eine von Studierenden der University of the South Pacific initiierte Kampagne, die sich zur Bewegung Pacific Islands Students Fighting Climate Change (PISFCC) und zu weiteren globalen Netzwerken entwickelte. Ihr Ziel war es, verbindliche Rechtsklarheit einzufordern, da Meeresspiegelanstieg und Extremwetterereignisse die bestehenden Schutzmechanismen längst überholt hatten. Vanuatu und andere Staaten des pazifischen Raums griffen diesen Impuls auf und brachten die Initiative in die Vereinten Nationen ein. Im März 2023 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution, die den IGH um ein Gutachten ersuchte. Besonders bemerkenswert ist dieser institutionelle Weg, weil er zeigt, wie gegenwärtige (und gerade junge) Akteure, die von den langfristigen Folgen der Klimakrise überproportional betroffen sind, das internationale System dazu drängen können, rechtliche Pflichten bereits heute anzuerkennen.
Warum das für Generationengerechtigkeit wichtig ist
Generationengerechtigkeit befasst sich mit den Pflichten zwischen Generationen: Was schulden wir denjenigen, die nach uns kommen? Welche Aufgaben haben heutige politische Institutionen, um künftigen Menschen grundlegende Lebensbedingungen zu sichern? Und wie sollen Privilegien und Risiken über die Zeit verteilt werden? Das Gutachten des IGH bringt die Generationengerechtigkeit voran, indem es rechtliche Pflichten präzisiert, Wiedergutmachung für verzögerte Schäden anerkennt und Instrumente zur Wahrung zukünftiger Interessen stärkt.
Was heißt das konkret?
- Von der Programmatik zur Rechtspflicht
Viele Theorien der Generationengerechtigkeit (ob rechtebasiert, vorsorgeorientiert oder auf Fähigkeiten gestützt) betonen, dass heutige Generationen Handlungen unterlassen müssen, die absehbar grundlegende Güter und Lebensperspektiven zukünftiger Menschen zerstören. Der IGH hat Präventions-, Sorgfalts- und Kooperationspflichten als völkerrechtlich verbindlich für Staaten festgelegt. Darüber hinaus hat er das Prinzip der intergenerationellen Gerechtigkeit als Auslegungsgrundsatz des Völkerrechts anerkannt. Dieses Prinzip geht davon aus, dass gegenwärtige Generationen die Erde und ihre Ressourcen treuhänderisch für die Zukunft verwalten, um würdige Lebensbedingungen zu erhalten und an kommende Generationen weiterzugeben. Auch wenn dies noch keine unmittelbare Rechtspflicht für Staaten darstellt, könnte es in künftige internationale Debatten einfließen. Entscheidend ist, dass der Gerichtshof 1,5°C als operativen Maßstab bestätigte und Minderung wie Anpassung als komplementäre rechtliche Verpflichtungen formulierte. Damit wird die Lücke zwischen normativem Anspruch und konkreter Pflicht deutlich kleiner. Diese Pflichten erfordern strenge Sorgfalt und erstrecken sich auf die Regulierung privater Akteure, etwa der fossilen Energiewirtschaft. Politische Entscheidungen wie Genehmigungen oder Subventionen werden dadurch rechtlich bedeutsam. Staaten müssen kontinuierliche, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende Anstrengungen unternehmen und von entwickelten Staaten wird gemäß Pariser Abkommen ein höheres Ambitionsniveau erwartet. Spielräume für verzögerte Maßnahmen werden dadurch stark eingeschränkt. - Anerkennung von Schäden und Pflicht zur Wiedergutmachung
Der IGH stellte einstimmig fest, dass ein Verstoß gegen Klimaschutzpflichten einen völkerrechtswidrigen Akt darstellt und Staatenverantwortlichkeit nach sich zieht. Bedeutend ist dabei, dass die bloße Emission von Treibhausgasen für sich genommen noch keinen völkerrechtswidrigen Akt darstellt. Verantwortlichkeit entsteht erst, wenn Staaten konkrete völkerrechtliche Pflichten zur Verhinderung oder Minderung verletzen. Unterlassen sie es, angemessene und verhältnismäßige Maßnahmen zu ergreifen, können sie zur Einstellung des schädigenden Verhaltens, zu Garantien der Nichtwiederholung und zu Wiedergutmachung verpflichtet werden – sei es durch Restitution, finanzielle Entschädigung oder andere Formen der Genugtuung. Entscheidend ist also nicht die Emission als solche, sondern das Versäumnis, bestehende Rechtsverpflichtungen einzuhalten. Für eine zukunftsgerichtete Gerechtigkeit ist es von großer Tragweite, dass das Recht nun auch Wiedergutmachung für Schäden mit langen Latenzzeiten und diffuser Kausalität anerkennt, etwa Meeresspiegelanstieg, Küstenvertreibung oder den Verlust von Ökosystemen. Diese rechtliche Anerkennung wirkt der Tendenz entgegen, künftige Schäden als unvermeidliche Begleiterscheinung abzutun, und eröffnet einen Weg zu generationenübergreifender Reparationsgerechtigkeit. - Demokratische Repräsentation für die Nachwelt
Ein zentrales Problem bleibt, dass zukünftige Generationen in den heutigen politischen Institutionen nicht vertreten sind. Die praktische Lösung liegt seit jeher darin, Institutionen und Rechtsmechanismen zu schaffen, die stellvertretend für ihre Interessen handeln. Der Weg zum IGH-Gutachten – von studentischem Aktivismus über staatliche Unterstützung bis zur Resolution der UN-Generalversammlung – zeigt, wie dieses Repräsentationsdefizit konkret überwunden werden kann. Gegenwärtige Akteure, insbesondere die am stärksten Betroffenen, können und müssen bestehende Institutionen nutzen, um rechtliche Anerkennung einzufordern. Dass der IGH feststellte, „alle Staaten“ hätten ein rechtliches Interesse an der Einhaltung, erweitert den Kreis derer, die Verantwortung geltend machen und Reformen im Namen der Nachwelt vorantreiben können.
Häufige Fragen (und kurze Antworten)
Ist das Gutachten verbindlich?
Leider sind die Gutachten des IGHs begrenzt und nicht in gleicher Weise bindend wie streitige Urteile des IGH. Dazu bleiben die Durchsetzungsmechanismen des Völkerrechts ebenfalls schwach. Investoren können weiterhin mithilfe von Investitionsschiedsverfahren klagen, und Staaten können immer noch regulatorische Veränderungen verzögern. Doch die Gutachten entfalten, in der Regel, erhebliches rechtliches und politisches Gewicht und können nationale Gerichte, Vertragsorgane und Gesetzgebungsprozesse erheblich beeinflussen. Somit verkleinert das Gutachten in der Praxis den Interpretationsspielraum für Staaten, die Untätigkeit als rechtmäßige Option ausgeben.
Verlangt das Gutachten ein sofortiges Verbot fossiler Brennstoffe?
Kurz gesagt: Nein. Das Gericht hat aber deutlich gemacht, dass Staaten für Handlungen verantwortlich gemacht werden können, die vorhersehbar Schaden verursachen, wozu auch fossile Produktion, Genehmigungen und Subventionen zählen. Mehrere Richter:innen sind noch einen Schritt weitergegangen und haben in einer gemeinsamen Erklärung betont, dass ein Verbleib innerhalb des 1,5-°C-Limits mit neuen fossilen Projekten unvereinbar ist, und auch nachgelagerte (Scope-3-)Emissionen zu berücksichtigen seien. Da, wie schon betont, die Gutachten und Erklärungen des IGHs oder seiner Richter:innen nicht rechtlich verbindlich sind, beinhaltet das Gutachten nicht ein sofortiges Verbot fossiler Brennstoffe, allerdings sind neue Förder- oder Produktionslizenzen ab jetzt oft mit hohem Haftungsrisiko verbunden.
Öffnet das Gutachten Investorenklagen Tür und Tor?
Im Gegenteil: Es stärkt die Position, und vor allem die Verantwortung der Staaten und schwächt das Narrativ, dass vor allem von Investoren eine erhöhte Klimaschutzpflicht erwartet wird, indem es Klimapflichten im allgemeinen Völkerrecht verankert. Vielmehr weist das Gutachten auf die Notwendigkeit hin, Investitionsschutzregime so zu reformieren, dass legitime Klimapolitik nicht behindert wird.
Hat der IGH die Rechte zukünftiger Generationen anerkannt?
Nicht unmittelbar. Zwar erwähnte die UNGA-Frage ausdrücklich „Völker und Individuen heutiger und künftiger Generationen“, doch der Gerichtshof vermied es, diese als eigenständige Rechtsträger:innen zu konzipieren. Stattdessen verankerte er ihren Schutz im Prinzip der intergenerationellen Gerechtigkeit. Dieses Zurückhalten ist enttäuschend, lässt aber Spielraum für die Zivilgesellschaft und künftige Verfahren, um weiterzugehen.
Was ist jetzt zu tun?
Für die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen ist das IGH-Gutachten ein Moment der Klarheit und der institutionellen Erneuerung. Wir fordern die Staaten auf, ihren völkerrechtlichen Pflichten nun nachzukommen, indem sie:
- Lizenz-, Subventions- und Genehmigungsrecht so ändern, dass alle Entscheidungen an einem 1,5°C-kompatiblen Maßstab gemessen werden, einschließlich Scope-3-Emissionen.
- Gesetzliche Sorgfaltspflichten und Umweltverträglichkeitsprüfungen zu stärken, damit langfristige systemische Risiken und intergenerationale Auswirkungen systematisch berücksichtigt werden.
- National verbindliche Anpassungspläne zu verankern, mit klaren Finanzierungszusagen, transparenter Berichterstattung und deutlich mehr internationaler Unterstützung für besonders gefährdete Staaten.
- Investitionsschutzregime so zu reformieren, dass rechtmäßige Klimaschutzmaßnahmen von Entschädigungsansprüchen ausgenommen sind und Investorenerwartungen keine Rechtspflichten durchbrechen können.
- Öffentliche Institutionen wie Zukunftsbeauftragte, Ombudspersonen oder Generationenkommissionen zu schaffen oder zu stärken, die Klagerechte haben und politische Beratung mit Blick auf Generationengerechtigkeit leisten.
Das Gutachten des IGH wird den Klimawandel nicht beenden. Aber es tut etwas moralisch wie rechtlich Bedeutsames: Es verwandelt die Forderung, kommenden Generationen einen bewohnbaren Planeten zu hinterlassen, in konkrete völkerrechtliche Erwartungen an die Staaten im Hier und Heute. Für die Generationengerechtigkeit bedeutet das sowohl Bestätigung als auch Verpflichtung. Der Gerichtshof hat uns stärkere Werkzeuge an die Hand gegeben, und es liegt nun an Zivilgesellschaft, Parlamenten und Gerichten, diese rechtliche Klarheit in politischen Willen und langlebige Institutionen umzusetzen, die die Rechte zukünftiger Generationen sichern.